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Französische Filmwoche: Kinder, wie die Zeit stillsteht

Auffallend häufig schrillt die Schulklingel während der Französischen Filmwoche in Berlin. Sophie Marceau spielt eine junggebliebene Mutter. Guillaume Depardieu, vergangenen Oktober 37-jährig gestorben, ist noch einmal in einer Hauptrolle zu sehen.

Hat Laurent Cantets fulminantes Pariser Schulalltagsporträt „Die Klasse“, das letztes Jahr in Cannes die Goldene Palme gewann, sie alle verhext? Nicht doch. Filme entstehen über Jahre, mitunter thematisch parallel, purzeln in die Kinos, und auf einmal ist eine Mode da. Aber von der Aufmerksamkeit, mit der überall Cantets scharfer Blick auf das Schlachtfeld Schule registriert wurde, auf die trügerische Wärme, die es den einen spendet, und das Außenseitertum, mit dem es andere straft, profitieren sie alle.

Auffallend häufig jedenfalls schrillt die Schulklingel während der Französischen Filmwoche in Berlin, mit dem üblichen Personal: hier die mitunter guten, häufiger sadistischen Pauker und die mal gutwilligen, aber häufiger steinzeitpädagogigischen Eltern, dort deren jugendliche Opfer, die aus dem Schulelternhausschlamassel möglichst heil herauszukommen suchen. Leicht und oberlocker hebt das Festival heute mit Lisa Azuelos’ „LOL“ (Kinostart: 27. August) an, einem Publikumshit in Frankreich, der sich vor allem an pubertierende Mädchen und ihre Mamas nebst Freundinnen wendet, die ihre pubertierenden Töchter und vielleicht auch sich selbst ein bisschen besser verstehen wollen.

Sophie Marceau ist die sehr junggebliebene, geschiedene Mutter der 15-jährigen Lola (Christa Theret), beide plagen sich mit Beziehungsnöten und zeitweiligem gegenseitigen Unverständnis, aber der Wille zur Liebe und zum allseitigen Happy End ist diesem flinken Filmlein stets anzusehen. Und damit niemand vergisst, dass er sich in der volldigitalisierten Gegenwart befindet, wird gemailt, gechattet, geyoutubet und vor allem mobiltelefoniert, was die Leinwand hält.

Aber das französische Kino ist bekanntlich nicht nur dort durchaus kurzweilig, wo es auf Drehbuch komm raus kurzweilig sein will, sondern hat vom verspielten Mainstream bis zu den späten Nachfahren der Nouvelle Vague viel Abwechslung im Repertoire. An die optisch oft spröden, akustisch eher redseligen Filme von Jacques Doillon und Eric Rohmer etwa erinnert Christophe Honorés „La belle personne“: Die 16-jährige Junie (Léa Seydoux) wechselt mitten im Schuljahr die Schule, lässt sich nach allerlei Suchbewegungen mit einem sanften Blonden ein, schwärmt aber hartnäckig für ihren liebesempfänglichen jungen Italienischlehrer (Louis Garrel) und löst schließlich eine Katastrophe aus. Anders als „LOL“ lässt dieser Film sich Zeit, beobachtet seine Figuren in intimen Intermezzi, verträumt schon mal eine dröge Schulminute solidarisch mit. Und: Kommunikationsprobleme werden hier mit handgeschriebenen Liebesbriefen oder Schulbank-Zettelchen gelöst, ein Handy kommt erst finalwärts zum Einsatz.

33 Schuljahre zurück und somit ab Werk mit Plattenspielern statt iPods ausgerüstet ist das dritte Mädchenporträt im Rahmen eines Schuljahreslaufs. In Sylvie Verheydes „Stella“ pendelt die elfjährige Stella (Léora Barbara) zwischen ihrem ungewöhnlichen Zuhause – die Eltern betreiben eine Billigpension mit Kneipe, in der soziale Absteiger ihr Leben vergammeln – und ihrer neuen Schule, für deren Anforderungen sie ganz und gar nicht gerüstet ist: Ihre Kenntnisse in Sachen Fußball und Pool Billard nützen ihr dortnichts, stattdessen sollte sie Cocteau und Balzac oder mindestens die Rechtschreibregeln kennen.

Wie tapfer und ernsthaft diese Außenseiterin vorankommt und sich ihr Leben zu bauen beginnt, im Schul-Dschungel und an den gutherzigen, aber unendlich abgelenkten Eltern vorbei: Der Film beobachtet das faszinierend genau und lässt dabei nahezu jede Klischeefalle aus. „Stella“ ist so natürlich anwesend wie seine Hauptdarstellerin und gerade deshalb der stärkste dieser Elternmahngesprächs- und Zeugniskonferenzfilme.

Guillaume Depardieu, vergangenen Oktober 37-jährig gestorben, spielt eine kleine Rolle in „Stella“; in Pierre Schoellers „Versailles“ ist er noch einmal in einer Hauptrolle zu sehen. Er spielt den noch immer jungen Damien, der in einer Hütte im Wald bei Versailles haust. Eines Tages taucht eine Obdachlose bei ihm auf, lässt ihren fünfjährigen Sohn zurück und verschwindet für Jahre. Schoeller wirft einen mitunter arg romantischen Blick auf sein Sozialdrama und erzählt doch behutsam, wie der Freiheit und Wildheit gewohnte Damien Verantwortung für den kleinen Wolfsjungen übernimmt, ohne sich selbst zu verleugnen. Auch hier spielen Schulpflicht und Familienrechte eine Rolle – und sind doch eher Schemen einer längst verlorenen gesellschaftlichen Normalität.

Familie, die letzte, und ganz privat: Guillaumes Vater Gérard, auch er einst ein äußerst ruppiger Jugendlicher, gibt in Claude Chabrols „Bellamy“ (Kinostart nächste Woche) einen berühmten Kommissar, der trotz Sommerurlaubs einen Fall übernimmt. Chabrol inszeniert die zwischen Versicherungsbetrug und Verbrechen aus Leidenschaft oszillierende Story mit aufreizender Langsamkeit – woraus ihr nach und nach zu entdeckender Charme resultiert. Gewissen Verhören, die eher individualtherapeutischen Plaudereien gleichen, folgt stets eine Nachbetrachtung Bellamys mit seiner Ehefrau (Marie Bunel), die die Geschichte mal voranbringt, mal auch nicht. Wie überhaupt der immer massigere Depardieu manchmal besonders still und müde wirkt. Aber in einem müden Blick des Gérard Depardieu steckt die ganze Welt, die in so vielen anderen Filmen erst noch erobert oder verloren werden muss.

Bis 8. Juli, Cinema Paris und Filmtheater am Friedrichshain. Details: www.franzoesische-filmwoche.de

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