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Neue Welten. Schtschukin gehörte mit seinem Erwerb von „Aha oé feii?“ von 1892 zu den Ersten, die Bilder von Paul Gauguin sammelten.

© The Pushkin State Museum of Fine Arts

Französische Moderne in der Fondation Louis Vuitton: Der legendäre Künstlerhimmel des Sergei Schtschkin

Matisse, Picasso, Gauguin, Cézanne: Sergei Schtschukin baute eine der umfassendsten Privatsammlungen von Kunst der französischen Moderne auf. Zu sehen ist sie jetzt in Paris.

Der Sammler geht voran, steht leitmotivisch über dem ersten Katalog, mit dem die Sammlung des Schokoladenfabrikanten Peter Ludwig 1969 in Köln auf den Plan trat. Es war ein Signal. Der Sammler erspürt mit Glück und dem richtigen Auge künstlerische Strömungen, bevor sie der Allgemeinheit sichtbar werden. Das genau bezeichnet den Moskauer Kaufmann und Industriellen Sergei Iwanowitsch Schtschukin (1854–1936). Er baute die wohl umfassendste Privatsammlung von Kunst der französischen Moderne der Generation von Pablo Picasso und Henri Matisse auf – die es immer noch gibt; wenn auch seit Jahrzehnten auf zwei Museen in Russland verteilt. Jetzt ist sie auf Zeit wiedervereint – in Paris, wo Schtschukin seine Bilder zumeist erworben hatte. Die private Fondation Louis Vuitton zeigt mit rund 130 Werken immerhin die Hälfte der ursprünglichen, im Katalog aufgelisteten Kollektion von 275 Werken.

Wie ein Triumphzeichen sind die Erwerbungsdaten nach Jahr und Tag auf den Schildchen vermerkt, die in der Ausstellung den Namen des Künstlers und den Titel des Werkes nennen. Immer wieder staunt der Besucher, wie bald nach ihrer Entstehung Schtschukin einzelne Arbeiten gekauft hat, der seine Tage, wenn er sich von den Verpflichtungen seines Unternehmens freimachen konnte, am liebsten in Paris verbrachte. Doch anders als andere reiche Russen nicht in den Etablissements der Vergnügungsmetropole, sondern bei den Händlern und frühen Sammlern von Künstlern. Picasso oder Matisse markierten die Zentralgestirne in Schtschukins Künstlerhimmel, dazu Gauguin und Paul Cézanne.

Die prächtigste Ausstellung, in der seine Sammlung je zu sehen war

Von dem viel später agierenden Albert Barnes im amerikanischen Philadelphia abgesehen, hat kein Enthusiast die französische Moderne derart umfassend und qualitätsvoll gesammelt. Allzu viel Zeit war ihm nicht vergönnt, seine in den Jahren vor dem Großen Krieg erworbenen Schätze im eigenen Wohnsitz zu genießen. Das Palais Trubetzkoi hatte der Vater einer prinzlichen Familie abgekauft und seinem Lieblingssohn und Nachfolger, dem 1854 geborenen Sergej, nach dessen Hochzeit geschenkt. Doch 1917 fegte die Revolution das Zarenreich hinweg, 1918 enteigneten die an die Macht geputschten Bolschewiki den Kunstbesitz von Sammlern wie Schtschukin und seinem Kollegen und Rivalen Iwan Morosow. Zunächst konnte der Sammler als eine Art Kurator der eigenen Sammlung fungieren, doch emigrierte er bald und lebte zwar komfortabel, doch zurückgezogen und ohne Kontakt mit den vormalig so entschieden unterstützten Künstlern in Paris, wo er 1936 verstarb.

Die Weltmetropole der Kunst richtet nun die prächtigste Ausstellung aus, in der seine Sammlung je zu sehen war. Genauer gesagt ist es die Fondation Louis Vuitton des Milliardärs Bernard Arnault, Eigentümer des Luxusgüterkonzerns LVMH, die mit geschätzten – und natürlich dementierten – zwölf Millionen Euro Einsatz das russische Kulturministerium bewogen hat, die Ausleihe der Schtschukin’schen Bestände aus der Petersburger Eremitage und dem Moskauer Puschkin-Museum zu genehmigen, angereichert um Leihgaben aus der Tretjakow-Galerie und einer Reihe kleinerer Museen. Das Ergebnis ist zu besichtigen im von Frank Gehry entworfenen Kultur-Segelschiff der Fondation im Stadtwald Bois de Boulogne, nicht ganz leicht zu erreichen für die Besuchermenge, die die Fondation derzeit für ihre franko-russische Ausstellung verzeichnet. Selbstbewusst nannte Stiftungs-Chef Jean-Paul Claverie „eine Million“ als Antwort auf die Frage nach der erwarteten Besucherzahl – und damit einen neuen Rekord sogar für die Kulturhauptstadt Paris.

Kein Superlativ ist übertrieben

Die aber hat die Ausstellung allemal verdient. Diese Sammlung ist sensationell, grandios, wegweisend, da ist kein Superlativ übertrieben. Dass sie in angemessener Qualität präsentiert wird, kommt hinzu. Es gibt unter den 14 Sälen eigene für Picasso und Matisse, wie es der Sammler in Anbetracht des Umfangs seiner Bestände selbst gehalten hat. Augenöffnend ist die Konfrontationen der Franzosen mit der von Schtschukin zwar nicht gesammelten, von seiner Sammlung jedoch angeregten russischen Avantgarde. Sie besteht ihrerseits aus den Strömungen des Neo-Primitivismus, Suprematismus und Konstruktivismus, behauptet also in jedem Fall Eigenständigkeit; doch treten die Einflusslinien jetzt, wo die Bilder des Sammlers und die der jungen Russen erstmals beieinanderhängen, offen zutage.

Das war dann schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg, in dessen Strudel Schtschukins künstlerisches und mäzenatisches Ideal verdarb. Längst hatte er die Schenkung seiner Kollektion der Vaterstadt Moskau versprochen, wie es seine gleichermaßen, wenn auch konventionell sammelfreudigen Brüder mit ihren Schätzen hielten. Seine eigene Auffassung von Kunst hatte sich der Sammler bei Händlern wie Durand-Ruel und später Vollard angeeignet, insbesondere aber bei einem Besuch der Geschwister Leo und Gertrude Stein in deren Pariser Appartement im Jahr 1907. Zwar kaufte Schtschukin erst später Arbeiten von Picasso als von Matisse. Doch die beiden Künstler-Antipoden wurden gleichermaßen die Eckpfeiler der eigenen Sammlung, über die die Moskauer Gesellschaft ebenso lachte wie lästerte. Jetzt glänzt die Vuitton-Auswahl mit Ikonen wie dem „Roten Zimmer“ und dem „Rosa Atelier“ von Matisse oder den „Drei Frauen“ und der „Dryade“ von Picasso, und was der Sammler von Gauguin oder auch Cézanne zusammentragen konnte, übersteigt so ziemlich jeden Museumsbestand. Dass Schtschukin Claude Monets frühes Hauptwerk „Das Frühstück im Grünen“, diese 1866 entstandene Paraphrase auf das drei Jahre frühere Skandalbild von Edouard Manet, im November 1904 in Berlin bei Paul Cassirer erwarb, beleuchtet blitzartig die enge Verflechtung der europäischen Moderne. Schtschukin füllt seinen Moskauer Palast mit Erwerbungen, die die überreich dekorierten Prachtsäle förmlich tapezieren, wie zeitgenössische Fotografien zeigen. Sonntags war die Sammlung zugänglich – allerdings auf telefonische Anmeldung, was den Besuch über die Moskauer Gesellschaft und die brennend neugierigen Künstler hinaus limitiert haben dürfte.

Ästhetischer Wagemut und ein Bruch mit Konventionen

Wie dem auch sei, zumindest die Rolle der Sammlung Schtschukin – und der in Paris verschwiegenen Sammlung Morosow – für die russische Avantgarde ist kaum zu überschätzen. Sergei Iwanowitsch wurde in seinem Beruf „das Auge“ genannt, wie sein Vater, dem er in kaufmännischer Hinsicht nachfolgte. Dieses unfehlbare Auge war es, mit dem Schtschukin schärfer erkannte, was die Zukunft der Kunst sein würde. Die Pariser Ausstellung verschweigt die tastenden Anfänge nicht, impressionistische Dutzendware von Pissarro oder Sisley, die noch nichts vom Wagemut verraten, dem Schtschukin ab 1906 so ungestüm folgte. Das war nicht nur ein ästhetischer Wagemut, sondern auch ein Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen, zeigte er doch in seinem Palais in großer Zahl weibliche Akte, wie verfremdet sie dem ungeübten Betrachter auch vorkommen mochten. Das schickte sich nicht in Moskau und schon gar nicht für ein führendes Mitglied der streng orthodoxen Kaufmannschaft. Inwieweit die zahlreichen Schicksalsschläge, die Schtschukin und seine Familie ereilten, seine Radikalisierung befördert haben, ist eine offene Frage: der ungeklärte Tod eines Sohnes im Aufstand von 1905, der Krebstod der erst 42-jährigen Ehefrau Anfang 1907 und an deren drittem Todestag der Selbstmord eines weiteren Sohnes.

Schtschukins Sammlung wird 1919 zum „Museum der Neuen Westlichen Kunst“ erklärt und 1923 mit der ebenfalls verstaatlichten Sammlung Morosow vereint. 1948 löst Stalin das Museum auf und lässt die Bilder auf Moskau und Leningrad verteilen. In Paris sind Schtschukins Bilder auf Zeit vereint, in Russland wird es dazu nicht kommen. Die tragische Geschichte lebt fort. Damals wie heute gilt: Der Sammler geht voran.

Paris, Fondation Louis Vuitton, bis 20. Februar. Mehr Infos unter: www.fondationlouisvuitton.en

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