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Kultur: Freier Eintritt, freier Fall

Wie Englands Kulturszene auf die schlimmsten Kürzungen seit Thatchers Zeiten reagiert

Der britische Kulturminister Jeremy Hunt glaubt, dass er auch nach dem Schlachtfest der britischen Etatkürzungen den „Enkeltest“ bestehen und künftigen Generationen in die Augen sehen kann. Und das, obwohl 15 Prozent Kürzungen, über den Daumen gepeilt, das Überleben Hunderter britischer Kultureinrichtungen in Frage stellen. „Aber im Vergleich mit anderen Ministerien“, beteuert Hunt, „ sind wir gut weggekommen.“

Die Künstler sehen das anders. Sie halten die Kürzungen in einem der wichtigsten Wirtschaftszweige Großbritanniens, den „kreativen Industrien“, auch für wirtschaftlich schädlich. „Kunst und Kultur sind für Großbritannien, was die Sonne für Spanien ist“, argumentiert der Cartoonist David Shrigley in einem Protestvideo. „Die wirtschaftlichen Vorteile eines blühenden Kunstsektors sind überall zu sehen, von der South Bank (der Londoner Kulturmeile an der Themse) bis Newcastle, Salford, Birmingham oder Glasgow“, mahnt auch Nicholas Hytner, der Intendant des Nationaltheaters.

Hytners Protest blieb vergleichsweise verhalten, denn sein Theater kam mit einem blauen Auge davon. Seit den Jahren von Margaret Thatcher, die bei der letzten großen Sparrunde wenig Verständnis für die Künste hatte und die Museen zur Erhebung von Eintrittsgebühren zwang, haben die Konservativen dazugelernt. Sie sparen dort am meisten, wo man es auf den ersten Blick am wenigsten merkt.

Es bleibt also beim freien Eintritt in die Nationalmuseen. Nicholas Serota, Chef der Tate Gallery, darf seinen 215 Millionen Pfund teuren Anbau für die Tate Modern bauen, das Britische Museum bekommt 135 Millionen für seinen Erweiterungsbau. Auch Kulturtempel wie das Nationaltheater oder die Royal Opera waren auf Schlimmeres gefasst. „Man hat uns eine Chance gegeben, unseren Weg durch die sehr schwierigen kommenden Jahre zu finden“, freut sich Operndirektor Tony Hall. Kulturtouristen haben aslo immer noch genügend Gründe für eine Reise nach Großbritannien.

Gnadenlos hat es dagegen die Förderung der Künste getroffen. Nach der Schließung des Film Councils, der wichtigsten Förderinstitution für den britischen Film, ist nun das Arts Council dran. Diese ebenfalls wichtigste Fördereinrichtung für bildende Künstler erhält 30 Prozent weniger Geld – und die schier unmögliche Auflage, dafür den eigenen Bürokratieaufwand um 50 Prozent zu kürzen, damit die Fördergelder nur um 15 Prozent verringert werden müssen.

Auch die in Labourjahren für britische Verhältnisse aufgeblühte Regionalkultur steht vor harten Zeiten. Kommunale Kunstzentren, Provinztheater, Galerien werden schließen, ohne dass die Nation viel davon erfährt. Den Kommunen fehlt Geld. In Manchester beschließt die Stadtverwaltung, welche ihrer 38 Kultureinrichtungen weiter gefördert werden, darunter ehrwürdige Einrichtungen wie das 150 Jahre alte Hallé Orchestra. Nicht alle haben sich, wie das Kulturzentrum Cornerhouse, durch Diversifizierung ihrer Einkünfte vom Staat unabhängig gemacht.

„Junge Künstler werden es künftig schwerer haben, eine erste Ausstellung, einen ersten Produktionsauftrag zu bekommen“, warnt Turner-Preisträger Grayson Perry: Die britische Kreativität werde darunter leiden, über kurz oder lang.

Insgesamt ist die britische Kultur dennoch in einem robusten Zustand. Man muss nur das Victoria & Albert Museum besuchen, das zu Thatchers Zeiten der Inbegriff eines heruntergekommenen Nationalmuseums war. Nun sieht es, nach dem klugen Einsatz von Sponsoren und Stiftergeldern, besser aus denn je. Etliche Institutionen haben sich vorgenommen, solidarisch zusammenzuarbeiten. Das Nationaltheater bietet Regionaltheatern Organisations- und Verwaltungshilfe an. Colin Tweedy von der Sponsoring Organisation „Business in Art“ hofft, dass Unternehmer in die Bresche springen. „Wir haben große Künstler, große Kulturleiter, entschlossene Geldbeschaffer, Unternehmen und Philanthropen mit Leidenschaft für die Künste und ein großartiges Publikum“, sagt er.

Am kämpferischsten ist Ken Loach. Der international vielfach preisgekrönte 74-jährige Filmemacher hielt zur Eröffnung des Londoner Filmfests eine flammende Rede, in der er sich über jene Kollegen empörte, die es plötzlich richtig finden, vor der Queen zu knien: „Was tut ihr da? Ihr wollt doch nicht wirklich diese klebrige Umarmung.“ Was er über die Filmemacher sagte, gilt wohl für alle Künste: „Wir dürfen uns mit einem Nein nicht zufriedengeben. ... Es liegt an uns allen, respektlos, fordernd, kritisch zu sein.“

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