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Kultur: Fremde Worte

THEATER

Familien- oder Urlaubsfotos betrachtet Martin Klein plötzlich nur mehr als Pappstücke, auf denen fremde Gesichter zu sehen sind. Weiße Flecken in der Erinnerungslandschaft. Mit seiner Adaptation von J. Bernlefs Roman Hirngespinste zeichnet der Regisseur Chaim Levano die Stadien einer fortschreitenden Demenz nach. Die Spaltung der Persönlichkeit, die mit Alzheimer einhergeht, setzt Levano geschickt um: Vier Schauspieler teilen sich die Rolle des Martin Klein und stellen die Manifestationen eines schwindenden Ich-Bewusstseins dar. Mal ist Martin wieder Kind und versteckt sich unterm Schreibtisch seines Vaters. Dann erscheint er als Geschäftsmann, der sich anschickt, eine Konferenz zu organisieren.

Besonders leidet seine Frau Vera (Petra M. Weimer) unter Martins schleichender Veränderung. Die Versuche, ihren Mann zu sich selbst zurückzuführen, scheitern immer häufiger. Die Einbrüche von Erinnerungsfetzen in seine verzweifelten Konzentrationsübungen sind musikalisch umgesetzt durch die Popband „Hirngespinste“. Wild toben die Musiker über die Bühne und stellen Martins Welt auf den Kopf.

Hauptsächlich aber ist es für Levano die Sprache, die die Persönlichkeit konstituiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist wie das Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier“. Geht die Sprache verloren, löst sich das Ich auf: Die Martins verstricken sich in Konversationen à la Ionesco, die Worte scheinen den Bezug zur Realität verloren zu haben. Die „Hirngespinste“ (bis 15. Dezember, Saalbau Neukölln ) sind beunruhigend und zugleich komisch. Nach dieser Aufführung mag sich so mancher Zuschauer angstvoll vergewissern, ob er sein eigenes Spiegelbild noch erkennt.

Tilla Fuchs

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