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Kultur: „Freunde, seid aufmerksam!“

Evolution ist alles: der Philosoph Wolfgang Welsch über das Band zwischen Mensch und Welt.

Herr Welsch, sind Sie einverstanden, wenn man Ihr Buch „Homo mundanus“ als groß angelegten Versuch bezeichnet, den Humanismus zu überwinden?

Ich würde sagen: So man kann es missverstehen. Ich attackiere nur den bornierten Humanismus. Mir geht es um die Überwindung einer Denkform, die auch von Nichthumanisten vertreten wird: Dass wir gar nicht anders können, als in allem, was wir tun, fühlen und erkennen, von menschlichen Mustern auszugehen. Ich nenne das die anthropische Denkform.

Worin besteht Ihre Kritik?

Nehmen wir unseren Sinn für Farben. Aus der Tatsache, dass wir Farben wahrnehmen können, wird in der modernen Wissenschaft gefolgert, dass unsere Sinnesstruktur den Gehalt, den wir sehen, konstituiert. Demnach ist die Welt an sich nicht farbig, sondern die Farbigkeit ist ein Produkt unseres Sinnesapparates. Mein Einwand lautet: Leute, bedenkt mal die Rückseite der Chose! Woher haben wir denn diesen Sinnesapparat? Wenn man das wissenschaftlich analysiert, wird man feststellen, dass sich diese Fähigkeiten im Zuge der Evolution entwickelt haben – im Abgleich mit der Welt.

Deshalb fordern Sie einen Paradigmenwechsel im Sinn einer Weltverbundenheit des Menschen: vom Homo humanus zum Homo mundanus. Ein großer Anspruch.

Philosophie muss unbescheiden sein. (lacht)

Der Weg zu dieser neuen Denkform fängt für Sie mit sogenannten Para-Erfahrungen an: Augenblicken tiefer Empfindung, die sich sprachlich nicht mehr ausdrücken lassen. Ist denn jeder dazu fähig?

Ich sehe keinen Grund, warum manche dazu prinzipiell unfähig sein sollten. Dass wir heute durch die Medien geprägt sind, weiß jeder. Es kann sein, dass dadurch die Aufmerksamkeit für diese Erfahrungen verschwindet. Aber ich sage: Freunde, seid aufmerksam! Stundenlanges Wandern am Meer, das besondere Licht einer Landschaft – ich vermute, dass alle irgendwann solche Para-Erfahrungen machen. Und ich behaupte, dass sie ihren Grund in unserer evolutionären Herkunft haben.

In diesem Zusammenhang taucht der scheinbar widersprüchliche Begriff Reflexionsgefühl auf. Soll er die rationale Logik in die sinnliche Erfahrung einbeziehen?

Im Unterschied zu einfachen Gefühlen wie dem Schmerz durch einen Wespenstich gibt es komplexere Gefühle, zu denen die Reflexion gehört. Wenn Adorno die Erschütterung als Wirkung einer bestimmten Musik beschreibt, ist das ein solches Reflexionsgefühl. Die Musik wird in einem Prozess erlebt, der Harmonie-Erwartungen erfüllt oder enttäuscht. Ich denke ohnehin, dass der Gegensatz Sinnlichkeit versus Reflexion zu künstlich ist. Speziell bei der Erfahrung unserer Weltverbundenheit geht es nicht um bloßen Rausch, sondern darum, dass einem im sinnlichen Medium etwas bewusst wird.

Als Sie angefangen haben, den Gedanken unserer Weltverbundenheit in Buchform zu bringen: War er da schon Gewissheit?

Es war eine Vermutung.

Das heißt, Sie haben die gesamte Geschichte der Philosophie, von der Antike bis zur Gegenwart, gesichtet, um die Probe aufs Exempel zu machen?

Ja, vor allem kam dann die Naturwissenschaft hinzu. Mit der Vermutung, dass man mit der Evolutionstheorie über den Mensch-Welt-Dualismus hinauskommen könnte, fing eine irrsinnige Arbeit an.

Wie war es für Sie als Philosoph, sich mit diesem Anliegen durch die Gefilde der Naturwissenschaft zu bewegen?

Weil es innerhalb der Naturwissenschaften keine eindeutigen Antworten, sondern dauernd Streit gibt, musste ich verschiedene Theorien prüfen, um herauszufiltern, was für den Gang der Evolution stimmen dürfte. Jetzt freue ich mich über zustimmende Briefe von Naturwissenschaftlern.

Das hört sich so an, als könnte sich die alte Debatte zwischen den zwei Kulturen, Natur- und Geisteswissenschaft erübrigen.

Überflüssig ist vor allem die Behauptung der Geisteswissenschaftler, die Aussagen der Naturwissenschaft seien reduktionistisch. Ich kann das nicht mehr hören! Wenn Naturwissenschaftler aus ihren Forschungsergebnissen Philosophie machen, dann trifft das zwar oft zu. Aber das heißt nur, dass man gegen ihre verkürzten Interpretationen angehen muss.

Für Sie selbst ist die Weltverbundenheit zur Gewissheit geworden: Können Sie sich überhaupt noch vorstellen, dass andere diese Überzeugung nicht teilen?

Natürlich. Ich mache lediglich einen Vorschlag.

Man könnte Ihr Buch als Erfüllung einer Sehnsucht lesen, denn im Jenseits der anthropischen Denkform wird man mit allem, was ist, verbunden und versöhnt.

Ja, absolut richtig.

Was dann fehlt, ist das Negative, Fremdheit, Rätselhaftigkeit, Absurdität ...

Diesen Mangel sehe ich nicht. Unsere Weltverbundenheit ist der unterste Boden. Darauf spielt sich alles ab, auch alles Negative, einschließlich Fremdheit und Alterität. Es wäre ja schrecklich, in ferne Länder zu reisen – und alles wäre vertraut. Auf Mord und Krieg könnten wir gut verzichten. Aber unser Erbe enthält nicht nur Nettes. Ich habe sogar den Verdacht, dass noch eine kosmische Grausamkeit in uns lebendig ist, die über den Aggressionstrieb hinausgeht.

Könnte es der Welt nutzen, dass wir so weltimprägnierte Wesen sind?

Die Frage scheint mir abwegig: Man kann das, was von ihr hervorgebracht wurde, nicht von ihr abziehen. Aus der Sicht der Welt sind wir ein Teil von ihr, so dass Urteile wertender Art – die Menschheit als Unsinn oder Herrlichkeit oder Nützlichkeit – nicht angebracht sind. Es ist so geworden! Eine andere Frage ist, ob die Menschen, wie sie heute sind, für das Leben auf der Erde nützlich sind.

Wir sind die Einzigen, die es schaffen, die Welt zu zerstören.

Genau. Nur möchte ich hier nicht missverstanden werden. Es wird gelegentlich behauptet, mein Denken sei sehr grün. Aber zu meinem Weltbild gehört, dass es uns eines Tages nicht mehr geben wird – egal, was wir tun. Und die Natur besteht nicht aus Natur- und Artenschutz. Was für eine abstruse Idee! Die meisten Arten sind im Lauf der Evolution ausgestorben. Und wenn wir die Artenvielfalt im Urwald schützen, die wir für Medikamente brauchen, geht es nicht zuletzt um den egoistischen Schutz der Menschenart. Weil wir eine Geschwisterlichkeit mit anderen Wesen haben, liegt die moralische Frage nahe, ob wir uns ihnen gegenüber so verhalten dürfen, dass wir sie zum Beispiel einfach abschlachten. Mein Ideal wäre es, allem Daseienden mit Achtung zu begegnen, auch Dingen oder Steinen.

Gibt es für uns noch eine Sonderrolle nach dem Abschied vom Menschen als „Krone der Schöpfung“?

Was bleibt, ist die Konsequenz für das Verhältnis zu den anderen, wenn man selbst ein hochelaboriertes Wesen der Evolution ist. Eine Biene hat dann eben viel mehr Freiheit, aber die Verantwortung liegt bei uns.

— Das Gespräch führte Angelika Brauer.

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