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Liest heute beim deutsch-französischen Literaturfest. Die in Berlin lebende Prix-Goncourt-Preisträgerin Marie NDiaye. Foto: AFP

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Kultur: Freundschaft der Wasservögel

Deutsche und französische Schriftsteller treffen sich in der Akademie der Künste Berlin

Was ist der Unterschied zwischen Freundschaft und freundlicher Indifferenz? Ist die seit Jahrzehnten intensiv gepflegte „amitié franco-allemande“ zu selbstverständlich geworden und dadurch etwas eingenickt? Im Jahr 2008 wurden laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels 347 deutsche Bücher ins Französische übersetzt (umgekehrt etwas weniger), davon 51 belletristische Titel, aber kein einziger Lyrikband. Dabei hat Japanisch durch die Beliebtheit der Mangas das Deutsche als – nach dem Englischen – am zweithäufigsten übersetzte Sprache überrundet.

Ab heute Abend wird ein außergewöhnliches, überfälliges Treffen von acht französischen und acht deutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern versuchen, auf die Frage nach der freundlichen Indifferenz dies- und jenseits des Rheins Antworten zu finden. Die Akademie der Künste am – selten so passenden – Pariser Platz in Berlin und ihr Kooperationspartner in Lyon, das Literaturhaus Villa Gillet, stellten binationale Lesungen von Autoren zusammen, die ähnliche Themenschwerpunkte haben.

So treffen sich die Spannungsexperten Thomas Hettche und Tanguy Viel, der ein erklärter Fan von Norbert Gstrein und Edgar Allan Poe ist. Der Bretone Viel schreibt zwar ebenso wenig wie Hettche klassische Krimis, nutzt aber deren Struktur, da sie ihm gedankliche und atmosphärische Freiräume schaffe. Viel, 1973 in Brest geboren, lässt seine Romane wie „Unverdächtig“ oder „Das absolut perfekte Verbrechen“, erschienen im romanophilen Wagenbach-Verlag, in abstrakten maritimen Landschaften spielen. Beim Rendez-vous littéraire hofft er zu entdecken, „mit welchen Einsätzen jeweils gespielt wird. Denn im Grunde haben wir 2010 dieselbe Geschichte, wenn auch nicht dieselbe Vergangenheit.“ Seine mitreisenden Kollegen, alle zwischen 30 und 40, kennt Viel „zwangsläufig“ alle. Doch zu unterschiedlich sind ihre Themen, zu sehr werden sie alle hierzulande von den Skandalautoren Michel Houllebecq, Cathérine Millet oder Jonathan Littell überschattet.

„Wir Franzosen schaffen es gerade nicht, eine gemeinsame Ästhetik zu formulieren oder gar eine literarische Fraktion zu bilden“, erklärt Viel. „Jeder arbeitet in seinem Bereich und es fehlt der Abstand, um die Entwicklung beurteilen zu können. Auch sind die Probleme der Ästhetik mittlerweile globalisiert.“ Ulrich Peltzer wird mit Laurent Mauvignier, Autor des Algerienkrieg-Romans „Des hommes“, lesen und über Gewalt und Massenphänomene diskutieren. Für ihn ist Houellebecq ein literarisch belangloser Denunziant, der nicht erzähle, sondern Rapporte verfasse.

„Gegenüber der Literatur des Nachbarlandes herrschte eine positive Indifferenz, wenn nicht gar eine mürrische Ignoranz“, sagt Petra Metz. Die Herausgeberin deutsch-französischer Literaturlexika hat das Literaturfest mit Micheline Bouchez von der Französischen Botschaft, Guy Walter, Direktor der Villa Gillet und Jörg Feßmann von der Akademie der Künste kuratiert. „Ich stelle immer wieder fest, dass sich jeweils nur Spezialisten für den anderen interessieren, Romanisten in Deutschland, Germanisten in Frankreich sowie die klassischen Mittlerinstitutionen wie das Goethe-Institut, die aber leider eine wirkliche Leidenschaft für aktuelle Literatur und Debatten nicht unbedingt entfachen können“, sagt sie. „Deshalb war meine Idee, mit der Akademie der Künste und der Villa Gillet zwei Institutionen zusammenzubringen, die nicht zum klassischen Zirkel des ‚Deutsch-Französischen’ zählen.“

„Es war in den letzten zwanzig Jahren in der Tat ‚üblicher’, mit osteuropäischen oder asiatischen Autoren in Kontakt zu kommen“, meint Thomas Hettche: „Gewiss ist die französische Vorbildhaftigkeit seit mindestens 130 Jahren dahin, und auch die Partnerschaft nach dem Faschismus hat ihre Dringlichkeit – vielleicht fälschlicherweise – verloren. Aber so etwas ist ja immer auch Kulturpolitik. Mein Eindruck ist eigentlich der einer großen Normalität. Die modernen Klassiker wie Camus sind auch hierzulande welche. Ich werde seit 1995 ins Französische übersetzt und fand die Aufnahme immer interessiert.“

„Freundschaften können nie ‚normal’ sein, sondern nur evident“, sagt die Südfranzösin Emmanuelle Pagano. Bereits ihr Debütroman „Le tiroir à cheveux“ (Die Haarschublade) erregte durch seine atmosphärische Dichte Aufsehen. Nun stellt sie Auszüge aus ihrem soeben publizierten Liebesroman „Absence d’oiseaux d’eau“ in Berlin vor und diskutiert mit Terézia Mora über – die Liebe. Zu Mora empfinde sie eine gewisse „Cousinenhaftigkeit“ bei ihrer Art des „fühlenden Schreibens“.

Véronique Ovaldé („Alles glitzert“, bei Kunstmann) wiederum fühlt sich von der Eleganz und Zartheit der Prosa ihrer Lesungspartnerin Judith Kuckart berührt. Marie Darrieussecq erzählt in ihrem neuen Buch „Tom est mort“ vom ratlos machenden Tod eines Vierjährigen. Sie trifft auf Ingo Schulze, der zerknirscht bekennt, zu den Lesungen „zunächst einmal als Leser wie zu einem Nachhilfekurs zu gehen“. Er hofft weniger auf thematische Gemeinsamkeiten als auf „Affinitäten in der Schreibhaltung, also der eigenen Poetik“. Mit François Beaune aus Clermont-Ferrand begegnet ein Liebhaber des Grotesken dem mutmaßlich seelenverwandten André Kubiczek, der noch nicht ins Französische übersetzt wurde.

Besondere Spannung verspricht die Lesung von Yannick Haenel (mit Eva Menasse) aus seinem Roman „Jan Karski“. Die deutsche Übersetzung erscheint im Herbst bei Rowohlt, was Haenel nach eigenen Angaben kaum erwarten kam. Der Herausgeber der Zeitschrift „Ligne de risque“ wurde als einziger der Autoren in Paris geboren. Es ist eine Tendenz der kulturellen Dezentralisierung in Frankreich zu beobachten, die Tanguy Viel bestätigt: „Man hat nicht mehr unbedingt das Gefühl, dass Paris das neuralgische Zentrum sei, wo Romane unbedingt spielen müssen.“

„Jan Karski“ orientiert sich am Leben eines Warschauer Widerstandskämpfers, der in Claude Lanzmanns Film „Shoah“ als Zeitzeuge auftrat. Lanzmann polemisierte heftig gegen das Buch; zu Unrecht, meint Viel, der seinem Kollegen Haenel zur Seite springt: „Lanzmann hält sich für den Eigentümer der Shoah – ein unerträglicher Zustand.“

„Frankreich hat dem Unendlichen die Eleganz entgegengestellt. Daraus ergeben sich alle Verdienste und Mängel seines Genius“, schrieb der rumänische E.M. Cioran über seine Wahlheimat. Eine der elegantesten und eigenwilligsten Autorinnen Frankreichs ist Marie N’Diaye, die seit drei Jahren in Berlin lebt. Die Tochter einer Französin und eines Senegalesen erhielt zuletzt den Prix Goncourt für ihren Roman „Trois femmes puissantes“ („Drei starke Frauen“). Er erscheint in Claudia Kalscheuers deutscher Übersetzung im Juni bei Suhrkamp.

Eine Podiumsdiskussion über „Deutsche und Franzosen – Fremde Freunde?“ eröffnet das Literaturfest, gefolgt von Marie N’Diayes Lesung. Im Herbst 2011 findet das Rendez-vous in der Villa Gillet in Lyon seine Fortsetzung – zu Gast bei bis dahin hoffentlich nicht mehr fremdelnden Freunden.

Rendez-vous littéraire vom 22.-24. April in der Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin. Eröffnung heute, Donnerstag, 19 Uhr, Informationen: www.adk.de/rendez-vous

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