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Horst-Eberhard Richter machte sich als Wissenschaftler zunächst auf dem Gebiet der Familientherapie einen Namen.

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Friedensaktivist: Der Versöhner: Horst-Eberhard Richter gestorben

Horst-Eberhard Richter, Leitfigur der bundesdeutschen Friedensbewegung, starb mit 88 Jahren.

Von Gregor Dotzauer

Er war 18 Jahre alt, als ihn der Zweite Weltkrieg noch einmal gebar. An der Ostfront prägte sich dem jungen Kanonier 1942 das wimmernde Leid beider Seiten so ein, dass er es als Lebensauftrag verstand, nachfolgenden Generationen solche Erfahrungen zu ersparen. Ein halbes Jahrhundert später, auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Nachrüstungsbeschlüsse der Nato, wurde Horst-Eberhard Richter zu einer Leitfigur der bundesdeutschen Friedensbewegung. Kein Pathos war ihm zu stark, das Irrationale des Wettrüstens anzuprangern: „Sich für den Frieden nicht zu engagieren“, hielt er 1981 als Motto seines „Versuchs einer paradoxen Intervention“ mit dem Titel „Alle redeten vom Frieden“ fest, „heißt, seine Zerstörung geschehen lassen.“

Richter, 1923 in Berlin geboren, hatte 1949 eine philosophische Dissertation zum Thema Schmerz geschrieben. Er wurde Neurologe, Psychiater und Psychoanalytiker, und man tritt ihm wohl nicht zu nahe, wenn man behauptet, dass sich in all seinen Aktivitäten auch seine eigenen Verletzungen spiegelten. Der Deserteur, der sich kurz vor Ende des Kriegs in den italienischen Alpen versteckte, wurde von französischen Soldaten aufgespürt, für einen „Werwolf“ der Nazis gehalten und vier Monate in einem Innsbrucker Gefängnis interniert; und der, der anschließend ein neues Leben beginnen wollte, musste erfahren, dass russische Soldaten beide Eltern ermordet hatten.

Zehn Jahre lang leitete er in Berlin ein Zentrum für seelisch gestörte Kinder und Jugendliche und stand auch dem Berliner Psychoanalytischen Institut vor, ehe er 1962 auf den neuen Lehrstuhl für Psychosomatik der Gießener Universität berufen wurde. Dort richtete er ein interdisziplinäres Zentrum ein, in dem sich medizinische, psychologische und soziologische Forschung ergänzten. Als Wissenschaftler machte er sich zunächst auf dem Gebiet der Familientherapie einen Namen und erreichte schon dabei ein Publikum über sein Fach hinaus. Aber erst als unendlich produktiver Publizist, der seine Beschäftigung mit Angst und Gewalt in kulturphilosophische Aussagen über die Grundstrukturen der westlichen Zivilisation überführte, erreichte er wirkliche Breitenwirkung.

„Der Gotteskomplex“ (1979) wurde zum Ereignis, weil Richter darin nicht Theismus gegen Atheismus ausspielte, sondern dem Menschen vorwarf, sich nach der Emanzipation von einem allmächtigen und strafenden Gott selbst eine omnipotente Rolle angeeignet zu haben. Daraus leitete er das selbstzerstörerische Potenzial einer narzisstischen Gattung ab, die das Männliche gegenüber dem Weiblichen privilegiert, Stärke preist, Schwäche verleugnet und fatale Herrschaftsstrukturen ausbildet.

Heilende Kräfte sah er in der ungetrübten Emotionalität einer mitfühlenden, zum Zentralbegriff ausgerufenen „Sympathie“, deren Haken nur ist, dass sie wiederum vor dem menschlichen Aggressionstrieb die Augen verschließt. Die Rettung, die Richter zu einer Zeit skizzierte, als der nächste Atomkrieg vor der Tür zu stehen schien, traf sicher ein weit verbreitetes Bedürfnis. Er konnte sie aber auch in einer beneidenswert prägnanten Sprache formulieren, die noch während der Irakkriege Gehör fand. Am Montag ist der international vielfach ausgezeichnete Richter, der nur das Bundesverdienstkreuz dreimal ablehnte, weil es schon „zu viele Ex-Nazis“ erhalten hätten, 88-jährig in Gießen gestorben.

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