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Swetlana Alexijewitsch bei der Verleihung des Friedenspreises durch den Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder.

© epd

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Leiden verdirbt den Menschen: Swetlana Alexijewitsch

Gulag und Gedächtnis: Die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch beim Festakt zur Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter Paulskirche.

Ein neuer Ton, eine neue Sprache komme dann in die Welt, wenn sich Erlebtes nicht mehr sagen lasse. Karl Schlögel, Osteuropahistoriker der Viadrina-Universität, beginnt mit diesen Worten am Sonntag seine Laudatio auf eine Preisträgerin, die, wie sie später in ihrer Dankesrede erwidern wird, das Schreiben tatsächlich aus einer Art Sprachlosigkeit heraus begann. Aufgewachsen in der Sowjetunion als knischnyj tschelowek, als „Buchmensch“, habe sie mit Bestürzung feststellen müssen, dass die Lebensgegenwart von Millionen sowjetischer Menschen in den Büchern nicht vorkam. Es war der Beginn einer lebenslangen Chronistenkarriere mit reichem literarischem Ertrag: fünf Bücher, viel Zuspruch in manchen, Verachtung und Verfolgung in anderen Teilen der Welt, nicht zuletzt zahllose Preise, zu denen gestern in der Frankfurter Paulskirche ein weiterer hinzukam: der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Das literarische Projekt der 1948 geborenen Weißrussin erschloss sich bei der Preisverleihung am besten dem Zuhörer, der sich ganz auf Alexijewitschs Dankrede konzentrierte. Nach knappen einleitenden Worten ließ die Schriftstellerin in einem rezitativen Stimmenkonzert ihre Protagonisten zu Wort kommen, die Helden und Antihelden ihrer dokumentarischen Bücher. Da sprachen auf einmal Menschen, deren Lebenswelt unendlich weit entfernt schien vom Alltag der versammelten Honoratioren in der Paulskirche, wie als nachgelieferter Beleg für einen Kernsatz aus Karl Schlögels Laudatio: „Menschen, die es geschichtlich besser getroffen haben, weil sie diesseits des Eisernen Vorhangs aufgewachsen sind, können von ihr lernen, was es bedeutet, auf der anderen Seite gelebt zu haben.“

Es waren in erster Linie Stimmen aus ihrem jüngsten Buch „Secondhand-Zeit“, die Alexijewitsch hier erklingen ließ: Stimmen, die fassungslos vom Ende der sowjetischen Ära berichten – und von den Schrecken, die ihm vorausgegangen sind. Gulag-Insassen sprechen hier, Nachkommen von Kriegstoten, Opfer von Verfolgung und Repression, Leidträger der ethnischen Massaker in den Randzonen des kollabierenden Imperiums, Verlierer der postsowjetischen Systemwende und des eskalierten Nachwendekapitalismus, Menschen schließlich, die, ohne Opfer eines konkreten Schicksalsschlags geworden zu sein, schlicht nicht fassen können, wie ihr altes sowjetisches Leben quasi über Nacht seinen Wert und Inhalt verlieren konnte.

Alexijewitsch ist eine beharrliche Archäologin der kommunistischen Lebenswelt

Gerade diese letzte, demütigende Erkenntnis, dass die grenzenlosen Leiden, die doch stets im Namen einer besseren Welt erbracht wurden, letztlich umsonst waren, eint in Alexijewitschs Stimmencollage Opfer und Täter. Es ist die Erkenntnis, dass die von der Autorin als „Versuchslabor des Kommunismus“ titulierte Sowjetunion mit fatalen Experimenten Menschen opferte, ohne den angestrebten Supermenschen erschaffen zu können. „Solschenizyn behauptete, das Leiden mache den Menschen besser“, formuliert Alexijewitsch in ihrer Dankrede. „Warlam Schalamow dagegen sagt: Das Leben im Lager verdirbt den Menschen. Auf Dauer hat sich gezeigt, dass Schalamow recht hatte. Der Lagermensch taugt nur für das Leben im Lager.“

Nicht überall will man so etwas hören. In ihrer autoritär regierten weißrussischen Heimat kann Swetlana Alexijewitsch ihre Bücher nicht publizieren. Sowohl Gottfried Honnefelder als Vorsteher des preisverleihenden Börsenvereins des Deutschen Buchhandels wie auch Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) würdigten in ihren Reden vor allem diese, die politisch aktuelle Dimension im Wirken von Swetlana Alexijewitsch.

Es blieb Karl Schlögel vorbehalten, in seiner Laudatio die geschichtlich wie geografisch sehr viel weiter reichenden Verdienste von Alexijewitschs Literatur herauszuarbeiten. Als „Archäologin der kommunistischen Lebenswelt“ würdigte er sie, die „beharrlich, furchtlos, ergreifend“ von den Fehlschlägen eines epochalen Experiments berichte, beginnend 1985 mit ihrem noch in der Sowjetunion erschienenen Buch über Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg, fortgesetzt mit Werken über die Mütter von Gefallenen des sowjetischen Afghanistanfeldzugs, über die Opfer der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, über sowjetische Selbstmörder.

„Sie musste ihre Geschichten nicht erfinden, sie fand sie“, erklärte Schlögel in Hinblick auf Alexijewitschs dokumentarischen Ansatz, dem die Schriftstellerin auch in ihrem jüngsten Buch „Secondhand-Zeit“ treu bleibt – dem bisher wohl ambitioniertesten, aber sicher nicht letzten Buch jener „einzigen Chronik“, als die Alexijewitsch ihre literarische Arbeit begreift.

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