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© dpa

Friedenspreis: Europa, der zerrissene Kontinent

Friedenspreis an Claudio Magris: Der Schriftsteller geißelt die Unmenschlichkeit derer, die die Einwanderer zurückhalten, und er beschreibt Europas Zerrissenheit genauso wie seine Selbstzufriedenheit, die sich bald als Schwäche erweisen könnte.

Die Vorfreude steht ihnen an diesem Vormittag in der sonnendurchfluteten Frankfurter Paulskirche ins Gesicht geschrieben, den Honoratioren in der ersten Reihe von Richard von Weizsäcker bis zu Börsenvereinsvorsteher Gottfried Honnefelder und den Gästen in den vollbesetzten Reihen dahinter: Vorfreude auf die Verleihung des Friedenspreises an den italienischen Germanisten und Schriftsteller Claudio Magris. Zudem hat man den Eindruck, als scheine in vielen Gesichtern auch Erleichterung auf, die spannungsreiche Buchmessenbegegnung mit der chinesischen Kultur hinter sich gebracht zu haben und in Magris „den Entdecker des anderen Europa, des mittleren und östlichen“ ehren zu können, als den ihn Laudator Karl Schlögel porträtiert.

Von dem Fremden, das es aufzunehmen gelte, „ohne das Eigene zu verraten“ spricht Honnefelder in seinem Grußwort. Doch hat sich auf dieser Buchmesse gezeigt, dass das Fremde Chinas meist fremd bleibt und nicht ohne Weiteres zu integrieren ist. Das Eigene muss gegen dieses Fremde oft geradezu in Stellung gebracht werden.

Mit Europa hat man es da viel leichter, mit einem Preisträger, dessen Schaffen sich aus einer mitteleuropäischen Erfahrung speist. Und auch mit einem Europa, das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs scheinbar viel größer, komplizierter und unübersichtlicher wurde. Dieses Europa aber war von Claudio Magris lange vorher ins Visier genommen worden, unter anderem 1986 in seiner epochalen FlussBiografie über die Donau oder seiner 1963 entstandenen Abhandlung über den habsburgischen Mythos. Darin beschreibt er die Fremdheit des Ostens so: „Was im Osten liegt, erscheint oft düster, beunruhigend, ungeordnet, nicht sehr würdevoll. Es gibt eine Tendenz, den Osten mit dem Negativen gleichzusetzen.“

Der Publizist und Geschichtsprofessor Karl Schlögel legt an diesem Vormittag noch einmal dar, wie Magris in seinem Werk dieses Negative des Ostens in ein helleres, positiveres Licht getaucht hat, wie er von Triest aus, seiner Heimatstadt, leidenschaftlich Aufklärungsarbeit leistet. Und wie er versucht hat, die tödliche Macht der nahen Grenze zum Ostblock zu neutralisieren, sich von der Grenze aber auch stimulieren ließ.

Claudio Magris ist aber schon wieder einen Schritt weiter und öffnet in seiner Dankesrede den europäischen Raum in die Welt hinein, in eine Welt, in der Europa neue, unsichtbare Grenzen gezogen hat. Zunächst spricht er von den Obsessionen für den Krieg, von „seinen götzendienerischen Verführungen“, aber auch von der Illusion, in der sich die Europäer wiegen, nämlich ohne Krieg zu leben, während überall auf der restlichen Welt andere Kriege toben. Denn, so Magris weiter, „heute sind es andere Grenzen, die den Frieden bedrohen, bisweilen unsichtbare Grenzen im Innern unserer Städte, zwischen uns und den Neuankömmlingen aus allen Teilen der Welt, die wir kaum wahrnehmen, denn, wie es im Lied von Mackie Messer heißt, ,die im Dunkeln sieht man nicht.‘ Nicht nur an den italienischen Küsten landen Flüchtlinge, die man für Piraten hält.“

Magris geißelt die Unmenschlichkeit derer, die die Einwanderer zurückhalten, und er beschreibt Europas Zerrissenheit genauso wie seine Selbstzufriedenheit, die sich bald als Schwäche erweisen könnte: „Auf Europa wartet die große und schwierige Aufgabe, sich den neuen Kulturen der neuen Europäer aus der ganzen Welt zu öffnen, die es durch ihre Mannigfaltigkeit bereichern.“ So erweist sich Magris zwanzig Jahre nach den Umwälzungen in Europa als idealer Friedenspreisträger: als Visionär, der lange vor 1989 die Idee eines neuen Mitteleuropas verfochten hat. Als Streiter für die Einheit Europas, trotz und gerade wegen seiner Vielfalt. Und als Verfechter einer europäischen Offenheit, die im Zeitalter der Globalisierung keine neuen Grenzen ziehen sollte.

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