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Kultur: Frischfleisch

Den längsten Kuss der Filmgeschichte hat Nicolas Provost zu bieten. Sechs Minuten lang halten sich Cary Grant und Eva Marie Saint, Rock Hudson und Doris Day in den Armen.

Den längsten Kuss der Filmgeschichte hat Nicolas Provost zu bieten. Sechs Minuten lang halten sich Cary Grant und Eva Marie Saint, Rock Hudson und Doris Day in den Armen. Oder waren es Hudson und Grant? Nach dem Video „Gravity“ lässt sich das nicht mehr genau sagen. Zu schnell sind Provosts Überblendungen, zu ähnlich die montierten Gesten, um im Stakkato der Umarmungen noch die einzelnen Schauspieler auszumachen. Das visuelle Überangebot hat allerdings auch eine andere Wirkung: Statt romantischer Gefühle stellt sich bald Überdruss ein, weil die intime Begegnung im Kuss dank Hollywood zum Stereotyp verkommt.

Dennoch wird man die Bilder nicht wieder los. So geht es auch Nicolas Provost, der seit über einem Jahrzehnt das Phänomen Kino untersucht und dabei selbst Filmkunstwerke schafft. Sein jüngstes Video, „Long Live the New Flesh“ (2009), war kürzlich im Wettbewerbsprogramm der Berlinale zu sehen. Flankiert wird es nun in der Galerie Haunch of Venison von einer Präsentation früherer Arbeiten des gebürtigen Belgiers und Absolventen der Genter Kunstakademie, der sich an der Schnittstelle zwischen Experimentalfilm und Videokunst sieht.

Küsse, Sonnenuntergänge und glitzernde Skylines, das ganze Repertoire der Filmindustrie findet sich auch bei Provost. Genau wie jene Instrumente, mit denen die Kunst die kinematografischen Fantasien seit Jahrzehnten traktiert – mit irritierenden Schnitten, slow motion, Überblendungen oder Störungen. Doch was in den Anfängen der Videokunst das Medium verunstalten sollte, wird im digitalen Zeitalter zu seinem ästhetischen Gut. Das zeigt besonders „Long Live the New Flesh“: Aus David Cronenbergs „Shivers“, in dem sich ein Wissenschaftler nach missglückten Experimenten selbst erschießt, aus „Alien“-Szenen und anderen Horrorfilmen komponiert Provost ein Tableau von Fleisch, Dunkelheit und Blut. 14 Minuten lang sind die digitalen Bilder im Fluss und derart miteinander verwoben, dass man nur Details erkennt. Was den Toten aus Bäuchen und Mündern quillt, zerfällt in farbige Pixel und generiert immer neue Schrecken. Ein geschlossener Kreislauf, der nur funktioniert, solange der Zuschauer im Dunkeln gebannt auf die Projektionsfläche starrt. Ein künstlicher Organismus, furchtbar schön und unberechenbar.

Provost entlehnt sein Material nicht irgendwelchen Splatterfilmen, sondern weidet Glanzlichter des Genres und hier der Unterart des „body horror“ aus. Das zeigt, auf welch elaborierter Ebene sich der Künstler mit in Horror gegossenen Ängsten auseinandersetzt. Und die parasitären Strukturen, die sich in seiner jüngsten Arbeit in fremden Körpern einnisten und sie verändern, weisen deutlich Parallelen zu Provosts eigener Strategie auf: Auch er schleicht sich in fremde Filme ein, manipuliert ihre künstlerische DNA und formt Geschichten um. Seine Bilder bleiben verführerisch, doch manifestiert sich in ihnen Kritik an der Selbstverständlichkeit, mit der der Film zugleich die Deutungshoheit über die Realität übernimmt. Christiane Meixner

Haunch of Venison Berlin, Heidestr. 46; bis 1.4., Di-Sa 11-18 Uhr.

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