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Kultur: Frühwinter in Zehlendorf

Lange dauert es, bis wir ihr ins Gesicht sehen Die ersten, unbequemen Minuten, in denen ein Liebhaber auf dem Parkplatz Abschied nimmt, die träumerischen danach, in denen sie sich über den Schreibtisch aus dem Fenster hinaussinnt: ein Pferdeschwanz, ein abwehrend gekrümmter Rücken, das ist alles.Aber auch, wenn wir Sophie Aigner ins Gesicht blicken, später, oft auch in Großaufnahme, kommen wir ihr nicht näher.

Lange dauert es, bis wir ihr ins Gesicht sehen Die ersten, unbequemen Minuten, in denen ein Liebhaber auf dem Parkplatz Abschied nimmt, die träumerischen danach, in denen sie sich über den Schreibtisch aus dem Fenster hinaussinnt: ein Pferdeschwanz, ein abwehrend gekrümmter Rücken, das ist alles.Aber auch, wenn wir Sophie Aigner ins Gesicht blicken, später, oft auch in Großaufnahme, kommen wir ihr nicht näher.Dieses freundliche, etwas grobe, runde Kindergesicht, unfertig in der Mund- und Wangenlinie, erfahren schon in den nachdenklichen Augen, zeigt keine Regung.Läßt sich nicht lesen.Weint nicht.Lacht nicht.Spricht auch nicht.

Zusehen - und genau hinhören -, das lernt man in Angela Schanelecs Film "Plätze in Städten", der letztes Jahr als einziger deutscher Beitrag im Cannes-Begleitprogramm "Un certain regard" lief.Zwei Stunden lang begleiten wir die siebzehnjährige Mimmi durch Berlin: zur Schule, zur Fahrstunde, auf Klassenfahrt.Wir sehen zu, wie sie sich in der Küche ein Brot schmiert oder Nudeln kocht.Wie sie mit der Freundin schwimmen geht, über Klassenarbeiten brütet oder auch mal mit dem Fahrschullehrer ins Bett geht.All diese Momente, aus denen ein Leben besteht, Tag für Tag, 24 Stunden lang.Die Kleinigkeiten, die einen den ganzen Tag beschäftigen, und nachher, am Abend, meint man, man habe nichts getan.

Es sind nicht die großen Linien, die Schanelec interessieren.Nicht, ob Mimmi sich von ihrem Freund getrennt hat, erzählt uns der Film, sondern daß sie noch eine Station mitfährt neben ihm im Bus.Nicht, warum ihr Verhältnis zur Mutter so gespannt ist, daß es manchmal ausbricht in verletzende Offenheit - "Ich will von dir nichts mehr wissen" -, sondern daß Mimmi sie beobachtet beim Mittagsschlaf auf dem Sofa.Selbst wie sie auf Klassenfahrt in Paris den jungen Franzosen kennengelernt hat, von dem sie schwanger wird, erfahren wir nicht.Aber wir sehen sie im Treppenhaus vor seinem Fenster stehen, im letzten Bild, so lange, bis das Licht ausgeht.

Fast scheint es, als wolle die Regisseurin uns den zusammenhängenden Blick, den klaren Handlungsbogen bewußt verstellen.Denn mit einem schnellen Schnitt, schmerzhaft abrupt, sind wir plötzlich von Berlin in Paris, oder in Hamburg, oder wieder in Berlin.Da brechen Handlungsstränge, Dialoge, Melodien mittendrin ab - und doch hat der Film seinen eigenen, verbindenden Ton.Einen klaren Rhythmus.Und viel, viel Zeit.

"Wenn man die Handlung erzählt, kommen drei Sätze dabei raus.Das ist vielleicht verwirrend, weil der Film zwei Stunden dauert.Zwei Stunden aber sind sehr kurz, um einen Menschen kennenzulernen", hat Angela Schanelec gesagt.Ja, kurz ist die Zeit bei aller Länge, und ganz gelingt es auch nicht, das Kennenlernen.Was weiß man schon, wenn man zwei Stunden lang ein Gesicht beobachtet hat? Im besten Sinne unspektakulär ist dieser Film und gleichzeitig im höchsten Sinne kunstvoll.Gedreht für die Reihe "Das kleine Fernsehspiel", profitiert "Plätze in Städten" wie kaum ein anderer Film vom großen Kinoformat.Denn Angela Schanelec komponiert jedes Bild, und wenn dann das Bild für Sekunden, ja Minuten auf der Leinwand verharrt, sind das lauter Stilleben hintereinander.Frau am Fenster, Frau an der Bushaltestelle, dann auch mal die Bushaltestelle allein oder ein Wohnhaus in Berlin oder Paris.Schon mal gesehen, wie harmonisch eine Laterne im Bild steht, oder, daß die Farben einer Tankstelle reine Poesie sein können? Anordnungen, als hätte ein Edward Hopper sie geplant.Dazu kommt ein Soundtrack aus Autorauschen, Bremsen, Schulklingeln, laut, aggressiv, übersteuert - als machte die Außenwelt wütend auf sich aufmerksam, weil diese stillen Bilder sie nicht kennen.Ein Großstadtfilm der anderen Art: Nie war Berlin so selbstverständlich schön wie in diesen zarten Frühwinteraufnahmen in Zehlendorf.Nie so kühl.Und nie so heimatlich.

Man muß schon viele Worte machen, um diesem stillen Film gerecht zu werden.

In Berlin in der Filmbühne am Steinplatz und im Kino fsk; morgen ist die Regisseurin im Anschluß an die Vorführung um 17.45 Uhr in der Filmbühne, um 20.30 Uhr im fsk zu Gast.

CHRISTINA TILMANN

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