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Im Visier der digitalen Selbstjustiz. Die Darsteller des Stücks „Fuck the Facts“ (v.l.): Hrund Ósk Árnadóttir, Angela Braun, Mario Klischies, Allen Boxer.

© Matthias Heyde

„Fuck the Facts“ an der Neuköllner Oper: Das digitale Elysium und die Diktatur der Emotionen

Netzkritik an der Neuköllner Oper: Regisseur Christian Römer verarbeitet in „Fuck the Facts“ den Skandal-Fall um den Internetaktivisten Jacob Appelbaum.

Die Studiobühne der Neuköllner Oper ist mit weißen Tüchern künstlich verkleinert. Darauf flimmern Projektionen, binäre Codes wechseln mit Hashtags und Programmierbefehlen. Als die Darsteller die Bühne betreten, potenziert sich die klaustrophobe Atmosphäre, bis auf wenige Meter nähern sie sich dem Publikum. Der Eingriff in die Privatsphäre wird geradezu physisch erfahrbar.

„Fuck the Facts“ baut auf Recherchen der auch für das Libretto verantwortlichen Journalistin Anna Catherin Loll auf, die den Fall des in Berlin lebenden Internetaktivisten Jacob Appelbaum untersuchte. Dem Star-Hacker wurde vor zwei Jahren anonym sexuelle Nötigung vorgeworfen, schnell hatte die digitale Selbstjustiz ein Urteil gesprochen. Unbekannte sprühten auf sein Berliner Wohnhaus den Satz „Ein Vergewaltiger wohnt hier!“; Appelbaum wurde zur Persona non grata.

Die Inszenierung ist leider oft phrasenhaft und belehrend

Ausgangspunkt ist die sozialrevolutionäre Romantik der Internetaktivisten. Die vier Sänger frohlocken zu Beginn über das Netz als Ort der Freiheit und Basisdemokratie „wie es Rousseau und Robespierre einst versprachen“. Das Urrauführungsensemble, ergänzt durch Samples und Synthieklänge aus dem Laptop des musikalischen Leiters Bijan Azadian, intoniert Händels „Messias“ als Ausdruck der messianischen Heilserwartung an das Netz. Auch sonst ist der Barockkomponist allgegenwärtig, wenn auch verfremdet. Dem Cembalo werden Technobeats beigesellt, Arien, Rezitative, Duette und Quartette stets ironisch gebrochen. Und das Libretto ist um diverse Kraftausdrücke und Hackervokabular angereichert.

Jay (der Bariton Allen Boxer) erlebt ähnlich wie Appelbaum Aufstieg und Niedergang als Software-Entwickler, bis zum digitalen Todesurteil. Dabei changiert die Handlung zwischen komplexen Sujets wie Definitionsmacht und Selbstjustiz; die Leichtigkeit des Musiktheaters kollidiert mitunter damit. Einmal räkelt sich Jay in der Badewanne und zieht eine Frau gegen ihren Willen ins Wasser. „Nein heißt Nein“ trällert diese ihm entgegen; der Opernduktus löst Gelächter aus. Dabei ist eine Verharmlosung sexueller Gewalt gewiss nicht intendiert. Trotz auch gelungen unterhaltsamer Momente gerät Christian Römers Inszenierung oft zu phrasenhaft und belehrend, etwa wenn am Ende Begriffe wie „Hexenjagd“ oder „Internetpranger“ auf die Bühne projiziert werden. Die 70 Minuten zuvor hätten genügt, um aufzuzeigen, wie das digitale Elysium im Zeitalter der Selbstermächtigung in eine Diktatur der Emotionen umschlagen kann.

wieder am 19., 20., 26. und 29.9., 20 Uhr

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