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Kultur: Führende deutsche Bibliotheken präsentieren sich in einer Ausstellung in Berlin

Frankreich hat seine Bibliothèque Nationale, Großbritannien die British Library und die Vereinigten Staaten besitzen die Library of Congress. Nationalbibliotheken gelten weltweit als Gedächtnis der Nation.

Frankreich hat seine Bibliothèque Nationale, Großbritannien die British Library und die Vereinigten Staaten besitzen die Library of Congress. Nationalbibliotheken gelten weltweit als Gedächtnis der Nation. Deutschland hat keine Nationalbibliothek, wohl aber seit zehn Jahren die "Sammlung Deutscher Drucke". Diese Arbeitsgemeinschaft von sechs deutschen Bibliotheken teilt sich die Aufgabe, das nationale Kulturerbe zu bewahren. Das Jubiläum der Arbeitsgemeinschaft wird jetzt mit einer Ausstellung in der Staatsbibliothek gefeiert.

Den Aufbruch in Neuzeit, die Zeit von 1450 bis 1600, dokumentiert die Bayerische Staatsbibliothek. Sie zeigt ein besonders schönes Stück mit dem illustrierten Katechismus aus dem Jahre 1553. Er ist von Hans Brosamer, einem der Künstler aus der Cranach-Schule, gestaltet worden. Wer ein frühes Beispiel einer konfessionellen Sensationspresse besichtigen will, findet es in Wolfgang Waldners "Newe Zeyttung" von 1558. Sie berichtet von "einer wunderbarlich Historien von zweyen Meidlein, so in irer Kranckheyt seltsam ding reden". In Wahrheit handelte es sich um zwei Mädchen, die an Epilepsie litten. Ihnen wurde unterstellt, dass sie bei ihren Anfällen seherische Fähigkeiten entwickelt und "antikatholische Propaganda" verkündet hätten.

In der Vitrine der niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen ist ein Buch augestellt, das 1761 im amerikanischen Philadelphia erschienen ist und Ratschläge für deutsche Einwanderer enthält: "Des Landmanns Advocat. Das ist: Kurzer Auszug aus solchen Gesetzen von Pennsylvania und england, welche daselbst in völliger Kraft, und einem freyen Einwohner auf dem Lande höchst nöthig und nützlich zu wissen sind. Enthaltend Anweisungen, welchergestalt der Landmann als ein Geschworener bey Verhören und Rechtssprüchen, oder Juryman; als ein Testamentsvollzieher, oder Executor; als ein Vormund, oder Guardian; als ein Friederhalter, oder Constable; als ein Armenpfleger, oder Overseer of the Poor u. s. w. sich zu betragen hat."

Die Stadt- und Universitätsbibliothek der Stadt Frankfurt am Main und die Senckenbergische Bibliothek sammeln die Literatur des 19. Jahrhunderts. Anders als bei den Hofbibliotheken wurde der Bestand der Stadtbibliothek von Frankfurt nicht planvoll durch einen Fürsten aufgebaut, sondern wuchs durch Stiftungen und Schenkungen der Bürger. Die heutige Stadt- und Universitätsbibliothek besitzt die größte Sammlung wissenschaftlicher Literatur über das Judentum, darunter Gebetbücher, die von ihren jüdischen Verfassern bewusst in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. Die Senckenbergische Bibliothek war eine Stiftung des Frankfurter Stadtphysikus Johann Christian Senckenberg. Dieser Arzt hatte im Auftrag der Stadt im Jahr 1763 eine Sammlung von Werken zusammengestellt, um den Ärzten eine solide naturwissenschaftliche und medizinische Ausbildung zu vermitteln. Senckenberg hatte mit dem Bildungsstand der anderen Ärzte in der Stadt denkbar schlechte Erfahrungen gemacht. In der Reihe dieser Bücher befinden sich interessante Werke, die zeigen wie sich die Medizin im 18./19. Jahrhundert allmählich zu einer naturwissenschaftlich fundierten Wissenschaft entwickelte und sich von philosophisch begründeten Theorien abwandte. In der Ausstellung ist der offene Brief von Ignaz Semmelweis an die Professoren der Geburtshilfe zu sehen, in dem er den Zusammenhang zwischen Kindbettfieber und den Sektionsübungen der behandelnden Ärzte erläutert.

Probleme mit dem Zahnersatz haben die Menschen schon in früheren Jahrhunderten beschäftigt. Dem Buch von Louis LaForgue "Die Zahnheilkunst in ihrem ganzen Umfange" von 1803 ist die Abbildung eines künstlichen Gebisses zu entnehmen, die von einem erstaunlichen Stand der Technik zeugt. Aber im Ausland war man damals in der Zahnbehandlung fortschrittlicher als in vielen deutschen Staaten. Der Autor empfahl jedenfalls allen Studenten der Zahnmedizin, Englisch und Französisch zu lernen, da es kaum entsprechende Literatur in deutscher Sprache gab.

Die Staatsbibliothek in Berlin, hat sich auf Drucke aus dem Zeitraum von der Reichsgründung 1871 bis zum Jahr 1912 konzentriert. Damals gab es Kulturzeitschriften, in denen gegen das Buch als Massenprodukt zu Felde gezogen wurde. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Frauenleben: Dazu gehören Modeblätter und Eugenie Marlitts Kolportageromane oder eine Schrift des "Cur-Arztes" Carl Fressel über "Das Radfahren der Damen". Der Cur-Arzt empfahl den Damen, die in Paris bereits üblichen Pumphosen zu tragen.

Der Gegenwart noch näher kommen die Schaustücke aus den Beständen der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verdankt ihre Entstehung der Initiative von Buchhändlern und Verlegern. Deren Standesorganisation, der heute noch bestehende Börsenverein des Deutschen Buchhandels, war maßgeblich an der Gründung dieser Bibliothek beteiligt. In diesem "Gesamtarchiv des deutschen Schrifttums" werden seit 1913 alle Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt gesammelt. An der Ausstellung beteiligt sich die Deutsche Bibliothek mit einer Auswahl aus der deutschen Exil-Literatur. Von Anna Seghers wird die 1942 in Mexiko erschienene Ausgabe des Romans "Das siebte Kreuz" und eine in New York gedruckte englische Fassung aus demselben Jahr gezeigt. Im Exil ist auch eine große Zahl von Kinder- und Jugendbüchern entstanden - mehr als 500 Bücher sind bibliographisch nachgewiesen.

Der Arbeitsgemeinschaft ist es gelungen, einen Ersatz für die fehlende Nationalbibliothek zu schaffen. Die Gründung der Arbeitsgemeinschaft war aus einem Treffen der Vertreter von fünf bedeutenden Bibliotheken im Hause der Volkswagen-Stiftung in Hannover hervorgegangen. Am 27. Juni 1989 hatten sie sich darauf verständigt, wenigsten ein Nationalarchiv zu schaffen. Die Anregung war von dem Münsteraner Bibliothekswissenschaftler, Bernhard Fabian, ausgegangen. Fabian hatte bereits 1983 vorgeschlagen, dass fünf große Bibliotheken es übernehmen sollten, die deutsche Literatur zu archivieren und zu erschließen. Auch bei der Auswahl der Bibliotheken und der Verteilung der Aufgaben folgte man Fabians Überlegungen: Die Bayerische Staatsbibliothek in München sollte für den Zeitraum von 1450 bis 1600 zuständig sein, die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel für den Zeitraum 1601 bis 1700 und die niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen für das 18. Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert bis zum Jahr 1870 fiel in die Zuständigkeit von zwei Bibliotheken in Frankfurt am Main, der Stadt- und Universitätsbibliothek und der Senckenbergischen Bibliothek. Die zwischen der Reichsgründung und 1945 erschienenen Druckschriften wurden der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin zugeordnet.

Seit der Wiedervereinigung beteiligt sich noch eine weitere Bibliothek an der virtuellen Nationalbibliothek: die Deutsche Bibliothek, die aus dem Zusammenschluß der Deutschen Bücherei in Leipzig und der 1946 in Frankfurt am Main gegründeten Deutschen Bibliothek hervorgegangen ist. Sie bearbeitet den Zeitraum von 1913 bis 1945. Diese Aufgabenverteilung unter zeitlichen Gesichtspunkten erwies sich als das einzige praktikable Prinzip. Sowohl eine fachliche als auch eine regionale Gliederung hätte zu erheblichen Schwierigkeiten geführt.

Mit der Ausstellung zum zehnjährigen Bestehen der Sammlung geben die beteiligten Bibliotheken einen Überblick über ihre Neuerwerbungen aus den vergangenen Jahren. In den Vitrinen werden mehr als 200 kostbare Druckschriften gezeigt, die einen Ausschnitt aus fast 500 Jahren deutscher Kulturgeschichte repräsentieren. Auf gut lesbaren Texttafeln werden nicht nur die einzelnen Exponate kurz und verständlich erläutert, sondern es wird auch eine Einführung in die jeweilige Epoche gegeben. Getrübt wird das Vergnügen allerdings dadurch, dass die Vitrinen eigentlich zu klein für die Menge der Ausstellungsstücke sind. Zudem Wirkt das Vestibül der Staatsbibliothek Unter den Linden recht düster. Diese Einschränkungen sollten jedoch keinen am Besuch der Ausstellung hindern. Empfehlenswert ist es, in den reizvoll gestalteten Katalog mit dem Titel "Kuilturen im Kontext" zu blicken (der Katalog kostet 49,50 DM). Darin werden nicht nur die Ausstellungsstücke vorgestellt. Lesenswerte Essays arbeiten auch einige Facetten der deutschen und europäischen Kulturgeschichte heraus.Ort der Ausstellung: Staatsbibliothek zu Berlin, Unter den Linden 8, Dauer bis zum 29. Januar 2000. Öffnungszeiten: montags bis freitags 9 bis 21 Uhr, samstags von 9 bis 17 Uhr; sonn- und feiertags sowie am 24. Und 31. Dezember 1999 bleibt die Ausstellung geschlossen; in der Zeit vom 27. bis 30. Dezember schließt sie um 17 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Anne Strodtmann

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