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Kultur: Für alle Unfälle

Eine Ausstellung zu „Kafkas Fabriken“ – und eine neue Biografie

Er bezeichnet sich als „dienstälteste Kafka-Witwe“, und als solche hat der Berliner Verleger Klaus Wagenbach in den vergangenen fünfzig Jahren zahlreiche Bücher über den Prager Schriftsteller geschrieben und herausgegeben. Sein Engagement krönt er jetzt mit einer Ausstellung im Marbacher Schiller-Nationalmuseum, die er zusammen mit Hans-Gerd Koch, dem Mitherausgeber der kritischen Kafka-Ausgabe und Petra Plättner vom Literaturarchiv realisiert hat. „Kafkas Fabriken“ präsentiert den Besuchern eine Welt, die von der Literaturwissenschaft bisher vernachlässigt wurde: Kafkas Berufsleben als Beamter bei der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“.

Die Ausstellung korrespondiert aufs Schönste mit einer gerade erschienenen Biografie, die Kafkas Leben in einer Ausführlichkeit – und Lesbarkeit – darstellt, wie noch keine Untersuchung zuvor. Dabei gelten die fast 700 Seiten von Reiner Stachs „Kafka“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 29,90 €) den „Jahren der Entscheidungen“, wie das Buch im Untertitel heißt. Stach hat in einer eindrucksvollen Mischung von exakter Recherche und literarisierender Darstellung nur die Jahre 1910 bis 1915 behandelt. Man kann das Verfahren, mit dem Stach äußere Details wie unter einer Lupe betrachtet, um sie als innere Beweggründe Kafkas darstellen, irritierend finden. Trotzdem macht diese Studie Kafka auf eine Weise lebendig, die sein Leben und Werk respektiert, ohne es an einen Typ von Künstlerroman zu verraten, den Kafkas wenig bewegtes Leben nur als Phantasma hergeben würde.

Als Klaus Wagenbach in den fünfziger Jahren begann, sich mit dem Prager Autor zu beschäftigen, dominierte in der Germanistik die werkimmanente Lektüre, die alle biografischen, gesellschaftlichen und politischen Bezüge aus der Interpretation des Kunstwerks verbannt hatte. Das habe ihn schon damals geärgert, bekannte der Verleger bei der Ausstellungseröffnung und demonstrierte an dem Prosastück „Kaiserliche Botschaft“, wie viel Realien aus Kafkas Leben Eingang in seine Literatur gefunden haben. Die Schau im Schiller-Nationalmuseum präsentiert diese Realien, wobei die Ausstellungsmacher auch zahlreiche Objekte aus ihren privaten Kafka-Sammlungen zeigen.

Die Ausstellung setzt drei Schwerpunkte: Kafkas Prag, sein Büro und die Fabriken, die in den Zuständigkeitsbereich des „Konzipisten“ Dr. Franz Kafka bei der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt“ fielen. Was dabei sichtbar wird, ist so etwas wie eine Urgeschichte der Moderne: eine Welt, die mit der Faszination wie mit dem Schock konfrontiert wurde, die Industrialisierung, Technisierung und Bürokratisierung für das Alltagsleben der Menschen bedeuten.

Es sind vor allem die technischen Neuheiten der Jahrhundertwende, die ins Auge springen: ein Fotoapparat von 1915, ein Fahrrad aus böhmischer Produktion und ein Motorrad von 1904, wie Kafkas Lieblingsonkel Siegfried Löwy, der „Landarzt“, eines besaß – Leihgaben des Prager Technischen Museums. Im nächsten Raum findet man Büromaschinen von damals: ein Telefon, ein Diktiergerät (den so genannten „Parlografen“) oder eine Schreibmaschine vom Baujahr 1909, wie sie Kafka für seinen ersten Brief an Felice Bauer benutzte. Kafkas Text „Die Aeroplane in Brescia“ von 1910 schließlich beschreibt den Beginn der Luftfahrttechnik.

Das Hauptstück der Ausstellung aber bilden „Kafkas Fabriken“, wo ein wichtiges Kapitel der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mitteleuropas dokumentiert wird. Nordböhmen, so erfahren wir, war im späten 19. Jahrhundert mit seiner Textil-, Maschinenbau-, Metall- und Glasindustrie das bedeutendste Industriegebiet der Donaumonarchie, wo die Fabriken wie die Pilze aus dem Boden schossen. 1887 hatte die Wiener Regierung begonnen, ein Sozialversicherungssystem aufzubauen, zu dem auch die „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt“ gehörte, bei der Kafka von 1908 bis 1922 beschäftigt war.

Als Kafka in die Behörde eintrat, befand diese sich gerade in einer Phase des Umbruchs. Ein neuer Direktor versuchte, das chronische Finanzdefizit der Anstalt zu beheben, indem neue Berechnungsgrundlagen für die Beiträge festgelegt wurden, die von den einzelnen Unternehmen zu entrichten waren. Die Unternehmer wehrten sich gegen die ihrer Ansicht nach zu hohen Lohnnebenkosten und legten häufig Widerspruch gegen die Beitragbemessungsbescheide der Unfallversicherung ein. Eine der Aufgaben Kafkas bestand darin, diese Einsprüche zu bearbeiten. Dafür waren Dienstreisen in die nordböhmischen Industriezentren nötig, wo sich Kafka in den Fabriken ein Bild von den Unfallrisiken machen konnte, denen die Arbeiter ausgesetzt waren. Arbeitsunfälle waren an der Tagesordnung: „In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus“, schreibt Kafka an den Freund Max Brod. Die Ausstellung dokumentiert diesen Arbeitsalltag in seiner ganzen Bandbreite vom zeitgenössischen Werbefilm bis zu den Unfallschutzmaßnahmen.

Lesen wir Kafka anders, wenn wir Einblicke in seinen Berufsalltag gewonnen haben? Es wäre sicher verfehlt, wenn man die Berufswelt der Büros und Fabriken, Formulare und Statistiken eins zu eins in jene fiktive Welt übersetzen wollte, die in der „Strafkolonie“, dem „Prozess“ oder dem „Schloss“ ausgebreitet wird. Aber die Realien von „Kafkas Fabriken“ ermöglichen einen Blick auf diese vertrauten Texte und bewahren uns vor allzu schnellen metaphysischen Deutungen.

Schiller-Nationalmuseum Marbach, bis 16. Februar 2003, 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Das zugehörige „Marbacher Magazin Nr. 100“ hat 160 Seiten und kostet 9 €.

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