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Kultur: Fürchten ums Image

ROCKMUSIK

Mythos gegen Mythos: Das Sergej-Kurjochin-Festival , das in diesem Jahr erstmals in Berlin stattfand, ist mehr als eine dröhnende Wundertüte zum Pauschalpreis. Denn es ist dem größten popmusikalischen Genie gewidmet, das Russland je hervorgebracht hat. Kurjochin, der 1996 im Alter von 42 Jahren starb, war eine Art russischer Frank Zappa: ein hyperaktiver Derwisch, der jede Spielart von Klassik über Jazz bis zu den Subgenres des Pop beherrschte. Aus zahllosen Einflüssen setzte er irrlichternde Klanggemälde im Riesenformat zusammen, bei denen die Hörer ihren Ohren nicht trauten. Wer als Nachlassverwalter dieser Ausnahmegestalt auftritt, spielt gegen hypertrophe Erwartungen an. Genau der richtige Rahmen für John Cale , sollte man meinen: Der zehrt seit drei Jahrzehnten von seinem Ruhm als kreativer Kopf von Velvet Underground – auch ein schillernder Solitär der Popmusikgeschichte.

Doch sein als Highlight des Festivals angekündigtes Konzert in der Kulturbrauerei verebbte völlig in den Niederungen des Gewöhnlichen. Zwar kann Cale ebenfalls auf ein Oeuvre von beeindruckender Vielfalt zurückblicken. Aber er zwingt die mahlenden Minimalismen aus VU-Zeiten, die fragilen Balladen seiner wahrscheinlich besten Platte „Paris 1919“ von 1973 und die raffiniert schräg-simplen Songs der neueren Aufnahmen in ein steriles Rock-Korsett, das alle Finessen abwürgt. Man merkt: Der Mann ringt um eine Klassizität, die ihm jedoch nicht zu Gebote steht. Daher vielleicht auch die panische Angst um sein Image. Auf sein Geheiß hin wurden alle Besucher vorab nach Kameras durchsucht, damit niemand unbefugt eine Fotografie von Cale machen konnte. Kurjochin, der sich mit allen Fasern verströmte, wären Knipsende im Publikum egal gewesen. Wen die Götter lieben, den lassen sie eben jung sterben.

Oliver Heilwagen

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