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Kindheit auf der Insel. Für den Fischerssohn Samuele Pucillo ist Lampedusa Heimat – das, was die Flüchtlinge verloren haben.

© Berlinale

"Fuocoammare" auf der Berlinale: Das blinde Auge

Zwei Stunden Film, die es in sich haben. Ästhetische Moral und politisches Bewusstsein. Gianfranco Rosi und sein Lampedusa-Dokumentarfilm „Fuocoammare“ im Wettbewerb der Belrinale.

An diesem Film wird die Bären-Jury am Ende kaum herumkommen. Schon vorab hieß es, Gianfranco Rosis knapp 110-minütige dokumentarische Erzählung „Fuocoammare“ („Feuer auf See“) sei der „Film der Stunde“, weil sie von der Flüchtlingsinsel Lampedusa handelt, wo in den letzten Jahren 450 000 Menschen aus Afrika gestrandet sind, viele aus Lebensgefahr gerettet wurden – und etwa 15 000 sind dabei gestorben. „Fuocoammare“ aber braucht keinen Aktualitäts- oder Themenbonus.

Rosis Filmbilder entziehen sich in der selbstverständlichen Würde ihrer Menschen, Landschaften, Stimmungen allem botschaftsbefrachteten Gerede. Also ist „Fuocoammare“ auch kein „Film der Stunde“. Nur zwei Stunden Film, die es in sich haben. Ästhetische Moral und politisches Bewusstsein.

Hinterm Horizont des Meeres

Es herrscht noch Winter, die windige Felseninsel zwischen Tunesien und Sizilien überzieht nur ein vorfrühlingshaftes Grün, und der Fischerssohn Samuele, ein zehnjähriger Junge, streift entlang der Küste durch einen knorrigen Pinienhain. Aus dem Holz schnitzt er die Gabel seiner Steinschleuder, mit der er und ein Freund nach der Schule versuchen, Vögel zu jagen. In fleischige Kakteenblätter schneiden sie Menschengesichter, auch auf sie zielen sie und brennen in den Mundschlitzen kleine Knallkörper ab. Zwei Jungs, die ein bisschen Krieg spielen – und wenn sie ihre imaginären Maschinenpistolen in den grauen Himmel richten, bleibt das noch eine luftige Kinderei – Pantomime freilich einer Realität: draußen, hinterm Horizont des Meeres.

Gegen Samueles unspektakuläre, oft auch witzige Alltagserlebnisse, in der Schule, beim Optiker oder beim familiären Pasta-mit-Tintenfisch-Mampfen, setzt Gianfranco Rosi nun nicht einfach den Ausnahmezustand. Kunstvoll zieht er um den Jungen herum allmählich Kreise. Die kindliche Vogeljagd mit Taschenlampe im Dunkeln kontrastiert mit Nachtaufnahmen der monströsen Radarstationen oder der sich für Hubschrauberflüge wie illuminierte Fischmäuler öffnenden Innenräume der um Lampedusa patroullierenden Kriegs- und Rettungsschiffe. Die künstliche Nacht gehört freilich auch dem abgedunkelten Studio des lokalen Musik- und Nachrichtensenders, in dem der DJ für Samueles Großtante eines ihrer aus Weltkriegszeiten stammenden Lieblingslieder auflegt, den Volksschlager „Fuocoammare“ (was fast klingt wie „amare“, lieben).

Ein Menschenliebhaber ist auch Dottore Bartolo, der Inselarzt, der neben den lampedusischen Patienten tausende Flüchtlinge nach der Landung behandelt. Der Notfall ist für ihn längst zum Normalfall geworden, selbst den Toten muss er für offizielle Untersuchungen oft noch Blut entnehmen, Glieder abschneiden, Frauenfinger, Kinderohren.

Die Helfer arbeiten bis zur Erschöpfung

Rosi filmt das nicht. Nur: wie die Körper der mit dem Tod Ringenden vom überfüllten Flüchtlingsboot gezogen werden, neben Leichen in Seesäcken. Auf den Rettungsschiffen und an Land arbeiten die Helfer bis zur Erschöpfung, doch was man auf den Filmbildern nicht erkennt, ist der beißende Schiffsdiesel, der die Kleidung der Überlebenden oft durchtränkt hat, ihre Haut darunter verätzt. Als einer der mit Mund- und Handschutz maskierten Carabinieri nach einer Leibesvisitation einmal seinen Handschuh gegen die Wand drückt, erscheint dort ein feuchter Fleck.

Für die meisten Inselbewohner bleiben all diese die Flüchtlinge Schatten. Sie verschwinden in einem abgegrenzten Aufnahmelager und werden später aufs Festland gebracht. Lampedusa ist die größte Transitzone Europas. Die Leuchtfeuer auf dem rauen Meer aber sind nur Irrlichter, auch für den jungen Samuele. Er braucht für seine Träume und Luftgefechte festen Boden unter den Füßen. Ein seekranker Fischerssohn. Das sind die Kontraste einer Dokumentation, die kein „Flüchtlingsfilm“ im engeren Sinne ist und die ihre spielfilmreife Insistenz ohne Melodramatik gewinnt.

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