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Macht und Ohnmacht der Töne. Am Freitag lädt die Kanzlerin die Teilnehmer des G 20-Gipfels zum Konzert in die Elbphilharmonie.

© dpa/Markus Scholz

G20-Gipfel: Musik und Politik: Diesen Kuss der ganzen Welt

Beim G20-Konzert hören die Staatslenker in der Elbphilharmonie Beethovens Neunte: Mutmaßungen über das vertrackte Verhältnis zwischen Musik, Moral und Politik

Alle lieben die Ode, trotz des schrillen Chorsoprans auf dem permanent hohen A: Demokraten, Kommunisten, Diktatoren, Sportler, Silvestergäste, Europäer – und die Japaner, die Beethovens Neunte alljährlich in Osaka mit 10 000 Laiensängern aufführen. Auch die Staats- und Regierungschefs beim G20-Gipfel werden am kommenden Freitag in der Hamburger Elbphilharmonie die Symphonie mit dem 940-taktigen Finale zu hören bekommen, auf Wunsch von Klassikfreundin Angela Merkel. Generalmusikdirektor Kent Nagano dirigiert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, den Staatsopernchor, die Solisten Christiane Karg, Okka von der Damerau, Klaus Florian Vogt und Franz-Josef Selig. Schillers „Ode an die Freude“ mit dem schönen Götterfunken der Freiheitsliebe, „Alle Menschen werden Brüder“, „Diesen Kuss der ganzen Welt“ – eine allzu versöhnliche Message für Trump, Putin, Erdogan, Xi Jinping oder den saudischen König Salman?

Eine ähnliche Message will am Vorabend das Global Citizen Festival in der Hamburger Barclaycard-Arena überbringen. „Für Freiheit. Für Gerechtigkeit. Für alle“, so das Motto des G20-Protest-Konzerts. Als Schirmherr firmiert Coldplay-Sänger Chris Martin, dabei sind Herbert Grönemeyer, Pharrell Williams, Ellie Goulding, Shakira. Sie fordern Maßnahmen zur Beendigung der globalen Armut, Latina-Superstar Shakira appelliert an die Machthaber, die Bildungschancen für Kinder in aller Welt zu verbessern.

"Ein politisch' Lied. Ein garstig' Lied! Pfui!" heißt es bei Goethe

Hier die gefällige Klassik, dort der aufmüpfige Pop? Das wäre ein naiv-ignorantes Musikweltbild. Und was heißt hier Message. Musik, Moral und Politik stehen in einer vertrackten Beziehung zueinander, seit Platon vor der Macht der Töne warnte, die heimlich auf den Charakter einwirken, das bürgerliche Leben vergiften und „die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken“ bringen könne. Goethe schimpfte im „Faust“, ein politisch’ Lied sei „Ein garstig’ Lied! Pfui!“ Einerseits die autonome, absolute Musik, andererseits ihre programmatische Verwendung zu Propaganda- und Protestzwecken: Der Streit darüber ist so alt wie die Posaunen von Jericho. Im Vorfeld des Gipfels wird er erneut ausgetragen.

Ellie Goulding tritt beim Global Citzen Festival am Vorabend von G 20 auf, in der Hamburger Barclay-Arena.
Ellie Goulding tritt beim Global Citzen Festival am Vorabend von G 20 auf, in der Hamburger Barclay-Arena.

© picture alliance / dpa/Andrew Cowie

Musiker dürfen sich nicht zu Dienern von Großpolitikern machen lassen, warnte der EKD-Kulturbeauftrage Johann Hinrich Claussen in der „Zeit“-Beilage „Christ & Welt“. Das Programm stand da noch nicht fest, aber Claussen schrieb ahnungsvoll: „Bitte werft die Neunte Sinfonie von Beethoven mit ihrer Freuden- und Freiheitshymne nicht Autokraten zu Füßen, bloß weil sie so festlich ist.“ Der Theologe empfahl, den Politikern vielmehr den „Fürstenspiegel“ vorzuhalten und widerständige Komponisten auszuwählen. Schostakowitsch zum Beispiel, im Zweifel lieber Biermann als Wagner. Nun ja, Wagner dirgierte eben die Neunte, als er 1849 in Dresden auf die Barrikaden ging.

Der Präsident des Deutschen Tonkünstlerverbands, Cornelius Hauptmann, widerspricht Claussen. Er hält die Einstellung, dass man „bösen“ Menschen keine Hochkultur bieten soll, weil es der Selbstbespiegelung dienen könne, für falsch. Die Musiker könnten den Kulturreichtum vielmehr nutzen, um zu zeigen, dass sie nicht zwangsläufig liebedienerisch sei.

Alban Gerhardt spielte für "Pulse of Europe" - und stieß auf Kritik

Sollen die Tonkünstler mit ihrer universell verständlichen Sprache bei ihren Leisten bleiben? Sich raushalten, sich weder repräsentativ noch rebellisch betätigen? Die Begleitmusik zu Trump-Amtseinführungen verweigern und bitte auch den Rock gegen Rechts, weil Zweckentfremdung? Der Streit wird derzeit vielfach geführt. Als der Cellist Alban Gerhardt Ende März bei der „Pulse of Europe“-Kundgebung auf dem Berliner Gendarmenmarkt nicht nur Bach spielte, sondern auch für ein freies Europa und gegen Trump sprach, zeigte sich „Zeit“-Musikredakteurin Christine Lemke-Matwey befremdet ob des fachfremden Engagements. „Die Verneinung alles selbstverständlich zu Verneinenden (Krieg, Gewalt, Faschismus) wirkt rasch wohlfeil. Und betulich. Und nervt“, so die Kollegin, die auch die Anti-Trump- und Anti-Brexit-Tweets des Pianisten Igor Levit nicht mutig findet. Sanktionen seien gegen Levit bislang nicht verhängt worden. Anders als etwa gegen den türkischen Pianisten und Komponisten Fazil Say, der wegen eines Tweets zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde.

Der Cellist Alban Gerhardt spielte für „Pulse of Europe“ Ende März auf dem Berliner Gendarmenmarkt.
Der Cellist Alban Gerhardt spielte für „Pulse of Europe“ Ende März auf dem Berliner Gendarmenmarkt.

© imago/Reiner Zensen

Nun ist das politische Engagement von Musikern nicht mehr oder weniger wohlfeil als das anderer Zeitgenossen. Und es erübrigt sich auch nicht, wenn keine Repressalien drohen. Die einen musizieren, die anderen musizieren und sagen auch mal was, warum nicht. Es macht sie nicht zu besseren oder schlechteren Künstlern, höchstens zu wacheren Bürgern. Und in einem Klassiktempel, der eher das konservative Publikum anlockt, erreicht man womöglich mehr AfD- oder Trump-Anhänger als im Popkonzert. Wenn man sie denn erreichen will.

Alban Gerhardt widerspricht LemkeMatwey denn auch und weist in einem Offenen Brief darauf hin, dass es in diesen besorgniserregenden Zeiten leider notwendig geworden sei, „selbst das Offensichtliche auszusprechen, so peinlich es sich auch anfühlen mag“. Den neuen Allianzen von Trump über Erdogan, Orban, Kaczynski und LePen bis zu Putin „können wir doch unmöglich in unserem nicht mehr ganz so weißen Elfenbeinturm zuschauen“. Weil er den öffentlichen Raum unter keinen Umständen „dem sogenannten Wutbürger“ überlassen will, hat Gerhardt die Gruppe Musicians4Europe mitgegründet. Deren Manifest für Europas kulturelle Vielfalt haben Stars wie der Sänger Thomas Quasthoff, die Geigerin Lisa Batiashvili oder der Pianist Leif Ove Andsnes unterzeichnet. Alles wohlfeil? Wer weiß, vielleicht schärft ein sensibler politischer Geist ja auch die übrigen Sinne.

Monumental, sakral - und doch ein Schrei nach Freiheit: Das ist Beethovens Neunte

Macht und Ohnmacht der Töne. Am Freitag lädt die Kanzlerin die Teilnehmer des G 20-Gipfels zum Konzert in die Elbphilharmonie.
Macht und Ohnmacht der Töne. Am Freitag lädt die Kanzlerin die Teilnehmer des G 20-Gipfels zum Konzert in die Elbphilharmonie.

© dpa/Markus Scholz

Dass der venezolanische Stardirigent Gustavo Dudamel kürzlich erstmals sein politisches Schweigen via Facebook brach, nachdem ein 17-jähriger Bratscher bei Demonstrationen gegen die Regierung Maduro ums Leben kam, hat jedenfalls für Aufsehen gesorgt. Dudamel, ein Kind des Sozialismus, hatte noch beim Staatsbegräbnis des Alleinherrschers Hugo Chávez dirigiert. Nun nutzt er die Autorität seines Ruhms, um der Politik ins Gewissen zu reden. „Ich erhebe meine Stimme gegen die Gewalt. Ich erhebe meine Stimme gegen jede Form von Unterdrückung. Nichts rechtfertigt Blutvergießen“. Zum Sturz des Staatschefs wird das kaum führen, aber der ohnmächtigen Jugend auf der Straße verschafft es Gehör.

Ist Musik in ihrem Innersten, jenseits aller Manifeste und Liedtexte, nun ein Botschafter der Freiheit oder ein wirkungsvolles Mittel zur Manipulation der Massen? Von letzterem machten Nationalsozialisten und Stalinisten bekanntlich ebenso Gebrauch wie seit Jahrhunderten die Freiheitskämpfer, vom Luther-Choral „Ein’ feste Burg“ als Lied der Bauernkrieger bis zur Marseillaise. So oder so ist die Musik vor Missbrauch nicht gefeit, eine wirkmächtige, paradoxerweise zugleich wehrlose, flüchtige Kunst.

Wolf Biermann sang sich heiser - weil die Öffentlichkeit ihm in der DDR verwehrt war

Wolf Biermann wurde 1976 ausgebürgert, weil er dem DDR-Mief mit seiner Gitarre zuhause in der Chausseestraße 131 trotzte. Je verbotener die Öffentlichkeit, desto lauter sang er sich die Kehle heiser, sprengte den privaten Raum zum Politikum auf. Auch der große Cellist Mstislaw Rostropowitsch hat sich als Freiheitsaktivist und Humanist einen Namen gemacht; wenige Tage nach dem 9. November 1989 spielte er an der Berliner Mauer Bachs Cellosuiten. Aber er ließ sich später von Aserbaidschans Diktator Heydar Aliyev in seinem Heimatsland feiern. Der Weltstar soll den Staatsmann sogar selbst um eine Einladung gebeten haben. Klar, auch böse Menschen haben Lieder.

Roll over Beethoven. Der Komponist (hier als Sandskulptur) schrieb die „Ode an die Freude“ in Zeiten der Restauration.
Roll over Beethoven. Der Komponist (hier als Sandskulptur) schrieb die „Ode an die Freude“ in Zeiten der Restauration.

© dpa/ picture alliance / Stefan Sauer

Zurück zur Elbphilharmonie. Alleine die Rezeptionsgeschichte von Beethovens Neunter zeigt, wie unentwirrbar die Geschichte der Töne mit der Weltgeschichte verquickt ist. Der taube Komponist setzte seine letzte Symphonie 1824 dem Zeitgeist der Restauration entgegen, widmete sie aber auch dem preußischen König und „träumte in monumentalen Dimensionen“, wie Esteban Buch in seiner Monografie „Beethovens Neunte. Eine Biographie“ ausführt. Das Werk stehe damit in der Tradition der Staatsmusiken. Seine schillernde Identität hat es sich trotzdem bewahrt. Schon die Zeitgenossen jubelten oder verwarfen die Neunte als monströs und trivial; Wagner nannte sie „das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft“, Gerhart Hauptmann gar eine „göttlich tönende Kuppel über dem Tempel der Menschheit“.

Stalin mochte die "Ode an die Freude", auch Hitler - und heute ist sie Europa-Hymne

Monumental, pseudo-religiös, pathetisch: Seitdem muss das Chor-Finale der Neunten für unzählige Staatsakte herhalten, und für vieles mehr. Stalin mochte die Schiller-Ode als „richtige Musik für die Massen“, zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 wurde sie mit Glockengeläut und Flakscheinwerferlicht sakral-matialisch überhöht, Furtwängler dirigierte sie zu Hitlers Geburtstag. In Theresienstadt musste der jüdische Kinderchor sie in den Waschräumen proben (wegen der besseren Akustik), Stanley Kubrick machte sie zum Soundtrack der Gewaltexzesse in „Clockwork Orange“. Und nach dem Mauerfall dichtete Leonard Bernstein sie in der Berliner Philharmonie zur „Ode an die Freiheit“ um. Seit 1972 fungiert ihre Instrumentalversion als offizielle Europahymne, 2001 wurde sie in die Unesco-Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen.

Also was nun, Pomp oder Pop, Affirmation oder Widerstand? Es lässt sich nicht trennen. „Freude schöner Götterfunken“, all das Leid, das Glück, die Freiheit, die Repression, es schwingt mit.

"Bettler werden Fürstenbrüder" hieß es ursprünglich bei Schiller

Übrigens hören Trump und Co. die gesamte Neunte. Die ist keineswegs Pathos pur. In den ersten drei Sätzen beschwört sie das Chaos herauf, Wirrnis und Wahn. Der Weltfrieden, den der Idealist Beethoven am Ende fortissimo feiert, bleibt ein frommer, verzweifelter Wunsch. Keine Hymne, ein Schrei. Generalmusikdirektor Kent Nagano, ein Meister der Zwischentöne, wird das wissen. Kürzlich äußerte er übrigens Sorge um sein Heimatland Amerika wegen Trumps Freiheitsbeschränkungen und Mauerbau-Plänen.

Musik ändert die Welt nicht, aber ihre Wahrnehmung. Wie wäre es in der Elbphilharmonie mit einer Zeile aus der Frühfassung der Schillerschen Ode, die unmissverständlich sozialen Sprengstoff birgt? Nicht „Alle Menschen werden Brüder“ schrieb der Dichter ursprünglich, sondern „Bettler werden Fürstenbrüder“. Da könnte auch Shakira mit einstimmen.

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