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Kultur: Ganz Lima trägt Lila

Lakonisches Debüt aus Peru: „Im Oktober werden Wunder wahr“ von Daniel und Diego Vega

In vier Tagen ist es wieder so weit. Ganz Lima trägt Lila zu einem der größten Feste der Christenheit. 24 Stunden dauert die Prozession des Señor de los Milagros, des Gottes der Wunder. Die Bewohner der Hauptstadt Perus folgen dem Bildnis des Cristo moreno, des schwarzen Christus. Sklaven malten es einst an die Fassade eines halb verfallenen Hauses. Und da weder Erdbeben noch frühe Anti-Graffiti-Maßnahmen es entfernen konnten, schien der Sachverhalt klar: Das Bild tut Wunder. Nur haben zu wenige Menschen vor einem Bild auf einer Hausmauer Platz. Die Prozessionsökonomie forderte ein mobiles Porträt des schwarzen Erlösers, eines, das sich durch die Straßen tragen ließ. Erstmals geschah das 1687 – und am 18. Oktober wird es wieder sein wie in jedem Jahr.

Gegen die überbordende Bilderwelt Lateinamerikas wirkt jene des Films der Brüder Vega wie eine Ausnüchterungszelle. Hauptfigur ist Clemente (Bruno Odar), und sein Mienenspiel ist nicht wesentlich beweglicher als das des schwarzen Christus in Öl. Vielleicht liegt es an seinem Beruf. Clemente repräsentiert gewissermaßen die Wall Street eines kleinen Viertels in Lima.

Er ist Pfandleiher, und da schon sein Vater Pfandleiher war, heißt er, obwohl bald fünfzig Jahre alt, noch immer „der Sohn des Pfandleihers“. Er leiht den Leuten Geld, die keines haben. Das ist eine übersichtliche Aufgabe, so übersichtlich wie Clementes Tisch. Tasse und Teller, dahinter Clemente beim Frühstück.

Die Brüder Daniel und Diego Vega haben in ihrem Debüt vor allem an eines gedacht: die spezifische mittlere Ausdrucksfähigkeit des Clemente-Gesichts an keiner Stelle zu überschreiten. Ihre Bilder zeigen die gleiche Entropie wie Clementes Frühstückstisch. Nur die Wasser- und sonstigen Flecke an den nie gestrichenen Wänden des Pfandleihers beweisen hier anarchisches Temperament. Und natürlich das, was in dem Korb liegt, den Clemente eines Tages in seinem Schlafzimmer findet: ein Baby.

Daniel und Diego Vega haben für ihren Erstling dieses Jahr in Cannes den Jury-Preis der Reihe Un Certain Regard gewonnen. Natürlich wäre es böse zu fragen: Warum? Die Brüder nennen den Film eine Komödie. Natürlich wäre es böse zu fragen: Warum? Denn wir sympathisieren durchaus mit dieser schockgefrorenen, ausgenüchterten Bilderwelt, auch dann, wenn wir hier nichts zu lachen haben. Vielleicht liegt auch nur ein transkulturelles Missverständnis vor.

Mag sein, dass in Peru ein Mann allein mit einem Säugling per se als furchtbar komisch gilt. Vielleicht müsste man an irgendeinem Punkt auch bloß beginnen, sich für den Mann mit Baby zu interessieren, so wie seine Nachbarin Sofia. Stattdessen bleibt die Frage: Warum macht sie das, warum betet sie gar zum Gott der Wunder, auf dass Clemente sie erhöre? Warum diese Kriecherei, diese Dienstfertigkeit für einen – für diesen – Mann? Sagen wir es so: Die Brüder Vega können durchaus die Brüder Coen Südamerikas werden. Die nötige Lakonie besitzen sie bereits. Nur sollte das scheinbar Leblose trotzdem leben, jedenfalls im Kino. Dem Pfandleiher Clemente jedoch dürfen wir den Totenschein getrost schon zu Lebzeiten ausstellen.

Kant, Kulturbrauerei; OmU in den Hacken Höfen und im Moviemento

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