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Kultur: Ganz oben

Ob als unbezwingbarer Gegner oder als schroffe Seelenlandschaft: Das Gebirge provozierte schon immer unsere Fantasie. Eine Ausstellung im norditalienischen Rovereto widmet sich nun dem Mythos der Berge

Rovereto ist mit rund 30000 Einwohnern immerhin die zweitgrößte Stadt in der norditalienischen Provinz Trient. Dennoch war Rovereto lange ein nettes, verschlafenes Nest, das zwar so reich ist, dass es den Bürgersteig am Corso Rosmini mit Marmor pflastern kann, aber ansonsten stets hartnäckig im Schatten von Trient blieb, der gleichnamigen Provinz-Hauptstadt am Fuß der Dolomiten.

Das hat sich geändert. Vor einem Jahr machte Rovereto mit der Eröffnung des Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto, kurz: Mart, einen gewaltigen Sprung nach vorne. 200000 Besucher haben Mario Bottas lichtdurchflutetes Museum seither besichtigt, mit seiner Attraktion der dem römischen Pantheon nachempfundenen Kuppel aus Stahl und Glas. 200000, das ist die Hälfte der Trientiner: eine beachtliche Zahl.

„Die Berge – Kunst, Wissenschaft, Mythos von Dürer bis Warhol“ lautet der Titel der aktuellen Ausstellung, die in den nächsten Monaten gewiss für weiteren Besucheransturm sorgen wird. Eine Ausstellung in den Bergen über die Berge: Das mag zunächst vordergründig erscheinen. Doch die Organisatoren haben eine erstaunliche Schau zusammengestellt, deren Schwergewicht naturgemäß auf der Malerei liegt. Die Kuratorinnen Gabriella Belli, Paola Giacomoni und Anna Ottani Cavina haben außerdem Objekte aus der Wissenschaftsgeschichte ausgewählt, die den schönen Künsten Fundament und Hintergrund verleihen.

Löwe mit Dorn

Zu sehen sind über 400 Werke aus sechs Jahrhunderten: Ausstellungsstücke von mehr als hundert Museen und anderen Leihgebern, vom Louvre über den Prado bis zur Berliner Nationalgalerie und der National Gallery in Washington, von der Bibliothek des Vatikans bis zur Library of Congress: Gemälde, alte Landkarten, wertvolle Bücher, Holzmodelle des 17. Jahrhunderts, physikalische Messinstrumente des 18. und des 19. Jahrhunderts. Dazu naturkundliche Gegenstände von prähistorischen Versteinerungen bis zu 3-D-Animationen von unterseeischen Gebirgen und den Erdbebengebieten der Welt entlang der Bruchlinien der Kontinentaldrifte. So ergibt sich ein reiches künstlerisches, historisches, geistesgeschichtliches Panorama, das den Bogen bis weit in die Gegenwart spannt.

Die meisten dieser Kunstwerke, wissenschaftlichen Darstellungen und Instrumente klären den Betrachter durchaus auf über die Wesensart der Berge. Von der frühesten Zeit an sah man in ihnen eine unwirtliche, unzugängliche Landschaft: abweisend, respektheischend, gefährlich. Ein Gegner, der zunächst unbezwingbar erschien, später eine gigantische Herausforderung war und bis heute unberechenbar geblieben ist. Das älteste Gemälde der Ausstellung ist das Werk eines namentlich unbekannten venezianisch-byzantinischen Meisters vom Ende des 14. Jahrhunderts. Es zeigt den Heiligen Hieronymus, wie er dem Löwen gerade den Dorn aus der Pranke zieht. Die Berge im Hintergrund haben symbolische Funktion: Sie sollen den entbehrungsreichen, asketischen Lebenswandel des Einsiedlers illustrieren.

Einen neugierigen, diesseitigen Maler wie den Nürnberger Albrecht Dürer interessierte 100 Jahre später etwas ganz anderes. Das Aquarell, das er auf dem Rückweg von seiner ersten Venedig-Reise 1495 von der Stadt Trient schuf, zeigt den Fluss Etsch und sein liebliches Tal. Am Ufer spazieren Männer, auf dem Wasser schippert ein Boot, links im Bild drängen sich die Häuser von Trient trutzig aneinander. Und dahinter türmen sich in düsterem Blau-Grau die Dolomiten auf, wie dunkle Gewitterwolken am Abendhimmel.

Dürers Realismus war im 15. und 16. Jahrhundert freilich die Ausnahme. Wenn damals Berge gemalt wurden, dann als grotesk schroffe Fantasiegebilde, die in den wildesten Farben und beinahe übertrieben expressionistischer Manier bis ans Firmament zu reichen scheinen wie bei den Flamen Joachim Patinir und Marten van Valckenborch.

Was die Menschen erschreckt, fasziniert sie auch. So fanden sich in den fürstlichen Wunderkammern neben Bildern und Kunstgewerbe auch Erze, Mineralien und weitere Absonderlichkeiten. Scharfkantige, ebenmäßige Bergkristalle galten als Inbegriff der perfekten Form. Hoch im Kurs standen auch Modellzeichnungen von Vulkanen, etwa jene, die Elizeum Weyerstraten und sein Kompagnon Janssonium 1665 in Amsterdam in großen Folianten verlegten. Überhaupt die Vulkane: Sie fesselten das Publikum derart, dass man fast von einem eigenen Genre der Vulkanmalerei sprechen muss – wobei die Grenzen vom Künstler zum Vulkanologen fließend waren. Der britische Ätna-Experte William Hamilton brachte es in dieser Doppelfunktion sogar bis zum Adelstitel und zum „Sonderbeauftragten der britischen Majestät“ am Königshof von Neapel.

Im Zuge der Aufklärung und der Entstehung der modernen Naturwissenschaften näherte man sich den Bergen dann auch mit feineren Geräten. Die Aneignung der Welt gewinnt an Schwung und macht dabei nicht einmal vor den beeindruckendsten Hindernissen Halt. Bereits im Jahr 1597 hatte Philippe Danfrie den so genannten Grafometer erfunden, ein Werkzeug zur Bestimmung von Höhenunterschieden. In den folgenden 200 Jahren schwärmten immer mehr Forscher aus, um Gipfel zu vermessen, wunderliche Tierarten zu beobachten und seltene Pflanzen zu studieren. Goethe zeichnete die Brücke an der Via Mala, Alexander von Humboldt bestieg Berge im Urwald von Brasilien und untersuchte deren Flora.

Mit den Wissenschaftlern kamen die Touristen. Zunächst waren das reiche Engländer auf Kavalierstour in den Süden, die – wenn sie nicht mit dem Schiff fuhren – die Alpen überqueren mussten. Mit den Touristen kamen wiederum die Souvenirs. Der 1739 in Krems geborene Michael Wütky malt bereits 1781 wie viele nach ihm die spektakulären Wasserfälle von Tivoli bei Rom.Und nicht nur das: Er hält darauf auch diejenigen fest, die sein Bild hoffentlich kaufen werden – drei bürgerlich gekleidete Männer, die sich im Zeichnen der Natur üben.

Senner mit Sennerin

Selbstverständlich wurden die Berge seinerzeit nicht domestiziert, auch wenn friedlich rastende Gesellschaften vor alpiner Kulisse dies suggerieren. Schon bald waren sie wieder in weite Ferne gerückt: Für Caspar David Friedrich etwa wird das Gebirge Anfang des 19. Jahrhunderts zum Sehnsuchtsort, zum Spiegel der Seele, der mit den echten Bergen nur das Aussehen gemeinsam hat. Die Entdeckung der Berge als Lebenswelt vollzieht sich erst Jahrzehnte später: Der große Giovanni Segantini malt die Bauern im Engadin bei ihrer mühseligen Arbeit, ein eher mittelmäßiger Künstler wie Charles Giron porträtiert Senner und Sennerin auf süßliche Art. Die nach Nordamerika ausgewanderten Thomas Moran und Albert Bierstadt feiern noch einmal die Monumentalität der Berglandschaft, bevor auch sie sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Richtung Abstraktion bewegen.

Die Ausstellung gewährt auch den Zeitgenossen breiten Raum. Dabei erstaunt, wie stark das alte Thema Künstler bis in die jüngste Vergangenheit beschäftigt und inspiriert. Auch der Respekt vor den Bergen ist ungebrochen, wie könnte es anders sein. Der österreichische Fotograf Walter Niedermayr, der die Skipisten der Alpen als Amüsierzirkus im Breitwandformat ablichtet, ist eine der wenigen Ausnahmen. Die meisten zeigen jedoch, dass mit den Bergen auch heute nicht zu spaßen ist. So hat etwa der Engländer Hamish Fulton auf einer Wandzeichnung ein immer noch gültiges Motto ausgegeben: Fultons Werk bezieht sich auf eine Besteigung des 8175 Meter hohen Cho Oyu im Himalaja ohne Sauerstoffmasken. Im oberen Teil des Bildes liest man den Schriftzug „Heart“, im unteren Teil steht: „Lungs“. Treffender lässt sich kaum ausdrücken, was der Berg mit einem tut.

Mart Rovereto/Trient, bis 18. April. Di – Do von 10–18 Uhr, Fr – So von 10–21 Uhr. Der Katalog kostet 65 Euro.

Ulrich Clewing

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