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Kultur: Ganze Treppe

Mythos Odessa: Eisenstein und Co. wollten Hollywood hier Konkurrenz machen. Die Filmstudios sind Legende. Jetzt proben junge Produzenten und ein Festival das Kino der Zukunft.

Sie verstanden sich als sowjetischer Gegenentwurf zur kalifornischen Traumfabrik: die Filmstudios in der ukrainischen Schwarzmeerstadt Odessa. Über 800 Filme wurden hier einst gedreht, der berühmteste: Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“. Eine Legende, ein Mythos. Heute erinnert auf dem Studiogelände nur noch wenig an den Glanz der alten Tage.

Seit Jahren fehlt es an Geld, hin und wieder kommen russische TV-Serienproduzenten vorbei, aber das ist es auch schon. Windmaschinen stehen herum, schrottreife Kamerakräne, eine verlorene Sphinx. Die ist vom letzten Karneval, erklärt Vadim Kostromenko, der einst als Kameramann und Regisseur großer Sowjetfilmproduktionen hier arbeitete. In einem kleinen Museum auf dem Gelände, das er mit Spendengeldern aufzubauen versucht, dokumentiert der bald 80-Jährige den Mythos Odessa.

Zum Beispiel die Sache mit dem ersten Kinoprojektor: Er soll hier noch vor dem der Gebrüder Lumière erfunden worden sein, von einem Mann namens Iosif Timchenko. Zwischen Filmplakaten, Requisiten und unzähligen Preisen aus 90 Jahren Filmgeschichte reiht der kettenrauchende Veteran Anekdote an Anekdote. Kostromenko war Kameramann des erst kürzlich gestorbenen Meisterregisseurs Pjotr Todorowski. Der war verzweifelt, als die Filmrollen seines Debüts noch während des Drehs beschädigt wurden. Doch Todorowksi habe bloß gesagt: Wir drehen einfach noch mal, Winterstimmung bekommen wir auch im Sommer zustande. „Treue“, der Film mit dem falschen Schnee, gewann beim Filmfest Venedig 1960 dann den Preis für das beste Debüt.

Odessas Hafentreppe ist seit der „Panzerkreuzer Potemkin“-Szene mit dem herunterrollenden Kinderwagen einer der berühmtesten Filmschauplätze der Welt und gewiss die berühmteste Filmbrücke. Jetzt drängen sich hier tausende Odessiten, Sommerurlauber und internationale Festivalgäste dicht an dicht, um Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilmklassiker „Sonnenaufgang“ mit Orchesterbegleitung zu erleben. Es ist Festivalzeit: Vor vier Jahren beschloss eine Handvoll Enthusiasten, der Stadt neues Kinoleben einzuhauchen. Mittlerweile zieht das Odessa International Film Festival illustre Gäste an, Stars wie John Malkovich oder Michael Madsen. Wobei sich das Festival auch als Plattform für das ukrainische Kino versteht, das seit der Unabhängigkeit des Landes lange im Dornröschenschlaf lag. Aber die Filmproduktion in Europas größtem Flächenstaat holt auf. Festivaldirektor Dennis Ivanov konnte den ukrainischen Wettbewerb diesmal aus rund 200 Einsendungen zusammenstellen.

Im ungewöhnlichstem Beitrag, dem Low-Budget-Film „Ich will nicht sterben“, spielen die Protagonisten von Odessas unabhängiger Kulturszene sich selbst. Ein Rockstar kehrt aus Moskau in seine Heimat zurück, Alkohol und Drogen sind im Spiel, eine vulgäre Sprache, Selbstironie, aber auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Film wie ein Hilfeschrei. Den romantischen Verklärungen der Stadt sagt er den Kampf an und zeigt eine widersprüchliche postsowjetische Realität mit schicken Warenhäusern und zur Schau gestellten Statussymbolen, verschließt aber nicht die Augen vor Armut und Aids.

Produzent Maksim Firsenko will mit seiner Firma Porto Franco Neues kreieren, mit minimalen finanziellen Mitteln. Der 29-Jährige besorgte sich 5000 Euro von privaten Geldgebern und realisierte einen ungeschminkten, ehrlichen Film. Im voll besetzten Rodina-Kino herrscht zunächst Ratlosigkeit, doch dann wird gelacht. Einst produzierte das Sowjetkino hier eine Tragikomödie nach der anderen – der spezifische Humor von Odessa gilt als krisenfest. Er schöpft aus der Vielzahl der kulturellen Einflüsse und der Tragödien seit der Gründung der Stadt Ende des 18. Jahrhunderts.

Filmmuseumsleiter Kostromenko ist allerdings weniger zum Lachen zumute. Kino soll die Menschen froh machen, so hat er es gelernt. „Ich will nicht sterben“ findet er zu finster, aber dass junge Odessiten das Projekt gestemmt haben, gefällt ihm. So ähnlich war er selber vor 55 Jahren, dem Ruf junger sowjetischer Filmpioniere folgend, nach Odessa gekommen. Dem Nachwuchs fühlt er sich verbunden: Bis heute unterrichtet Kostromenko an der örtlichen Filmschule.

„Das eigenständige ukrainische Kino ist noch relativ jung“, erklärt Festivalchef Ivanov. Er versteht die Wettbewerbsreihe zunächst einmal als eine Art Bestandsaufnahme – mit steigender Qualität: Firsenkos letzter Film war 2012 noch vom Auswahlkomitee abgelehnt worden. Inzwischen gehört der junge Produzent zur kleinen, aufstrebenden Filmszene, die sich in radikaler Eigeninitiative von der Realität des heutigen Odessa inspirieren lässt – in einer Stadt, die gleichzeitig wie eine einzige Filmkulisse wirkt.

Eine lebende Legende ist auch die Filmemacherin Kira Muratova, eine der kontroversesten Filmschaffenden Osteuropas. Aufgewachsen im heutigen Moldawien und ausgebildet in Moskau, lebt sie seit einem halben Jahrhundert mit strafversetzungsbedingten Unterbrechungen in Odessa. Auf der Berlinale gewann sie 1990 einen Silbernen Bären für „Das asthenische Syndrom“. Darin thematisierte sie auf verstörende Weise Zerfall, Verwirrung und Apathie in ihrer sowjetischen Heimat, eine Art Psychopathologie des Landes. Auf dem Festival in Odessa zeigt sie ihr jüngstes Werk ,„The Eternal Homecoming“: Ein alter Freund besucht eine Schulkameradin und fragt um Rat. Er liebe zwei Frauen, seine Ehefrau und seine Geliebte. Muratova lässt den Dialog unzählige Male wiederholen und variieren – eine Versuchsanordnung, die auch den Zuschauer in den Bann zieht.

In der Sowjetunion war die mittlerweile 78-Jährige wegen ihrer eigenwilligen Erzählungen über das angepasste Leben im Riesenreich mit Drehverbot belegt worden. Und das Filmstudio Odessa beschnitt einen ihrer Filme so drastisch, dass sie ihren Namen aus Vor- und Abspann entfernen ließ. Das Engagement derer, die die Erinnerung an die Studios wachhalten wollen, kommentiert sie daher nur mit den lapidaren Worten: „Jeder Gefangene beginnt irgendwann, seine Zelle zu mögen.“ Wenn es nicht um die eigenen Filme geht, ist sie keine Kämpferin, sagt Muratova, aber die Initiative der jungen Regisseure heute gefällt ihr. Die Filme will sie sich aber erst ansehen, wenn die roten Teppiche eingerollt und die Parties vorbei sind. Die waren ohnehin noch nie ihr Ding.

Der betagte Vadim Kostromenko will das Filmemachen ebenfalls nicht lassen. Mit Sohn Dimitri sucht er Sponsoren für die Realisierung seines fertigen Scripts. Der Plot: Ukrainische Prostituierte werden per Schiff entführt, stranden auf einer einsamen Insel und proben mit ihren Kidnappern verschiedene Formen des Zusammenlebens, Demokratie, Diktatur, Matriarchat. Nichts funktioniert. Ein Sinnbild für die Ukraine? Jedenfalls eine Tragikomödie, über die in Odessa bestimmt herzhaft gelacht würde, sollten Vater und Sohn tatsächlich Sponsoren finden.

Sebastian Saam

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