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Kultur: Gastvögel

Das Satyrspiel „Perikizi“ im Ballhaus Naunynstraße

Die junge Frau ist auf der Flucht vor den Toten und auf dem Weg in den Zauberwald. Schauspielerin will die feurige Theaternärrin aus Istanbul werden, als Shakespeares Titania groß herauskommen im fernen Europa. Und die Geistergeschichten der Großmutter hinter sich lassen, die Erzählungen von den Brückenstürzen der armenischen Bräute und den gefallenen Großvätern. Sie solle niemals nachts in den Spiegel schauen, sonst ginge sie in der Fremde verloren, den Rat gibt die Großmutter ihr noch mit. Aber da ist die Enkelin, deren Name Feenkind bedeutet, schon längst vom Sog des Unbekannten erfasst worden: Perikizi im Wunderland.

Es ist eine Fabel von Aufbruch und Emanzipation, von geplatzten Hoffnungen, Demütigungen und haupterhobenem Trotz. Die Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die in den 60ern nach Deutschland kam, hat ihre Erinnerungen an die Irrfahrt in dem autobiographischen Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ verdichtet und ins Schwebend-Poetische, auch Funkelnd-Sarkastische überhöht. Auf der Grundlage dieses Buches ist ihr Stück „Perikizi“ entstanden, das vergangenes Jahr im Rahmen der „Odyssee Europa“ der Kulturhauptstadt Ruhr uraufgeführt wurde, einer Neudichtung des Homer-Mythos durch sechs Gegenwartsdramatiker. Jetzt hat sich der junge Regisseur Michael Ronen diesen bildgewaltigen Traumstoff am Ballhaus Naunynstraße vorgenommen – und ein phantasiesprühendes Satyrspiel destilliert.

Die Hauptdarstellerin seiner zeitentrückten Heldinnen- Saga, die famose Ballhaus-Debütantin Elmira Bahrami, gibt ihre Perikizi mit stürmischer Naivität und Schläue. Ein Sehnsuchts-Geschöpf auf der Odyssee, das sich unversehens in der Manege wiederfindet – Vorhang auf für Märchen, Mythen, Illusionen. Das Zirkusbühnenbild mit Vertikalschaukel eröffnet eine burleske Gegenwelt, in der grellbunte Gestalten den Weg kreuzen (Bühne und Kostüm: Sophie du Vintage und Sylvia Rieger). Ein stimmiges Setting für Özdamars zitatpralles Stationendrama, das seinen Ausgang im „Hurenzug nach Europa“ unter gallig-frivolen Weibern nimmt, in ein Berliner Wohnheim der türkischen Kommunistinnen und Grauen Wölfe führt, und Perikizi statt auf die Bühne ans Fließband zum Eierverpacken verschlägt, zusammen mit anderen „Gastvögeln“.

Regisseur Ronen, der am Ballhaus schon mit der Groteske „Warten auf Adam Spielman“ sein Talent für Geschichten abseits des Gradlinigen bewiesen hat, inszeniert den Kulturschock mit Lust an der Travestie – in die sich auch die Darsteller Vernesa Berbo, Melek Erenay, Cem Sultan Ungan und Mehmet Yilmaz im fliegenden Kostümwechsel beherzt stürzen, gleich ob als clownesker Hurenchor oder beim entgrenzten Schuhplattler. Doch sie überspielen dabei nicht den Grundernst, mit dem Özdamar hier vieldeutig vom Verlust der Unschuld erzählt. Die wird Perikizi in dieser sexuell konnotierten Fabel von einem Zirkusdompteur der Integration geraubt, der Sätze ruft wie: „Die Exotik darf nicht verloren gehen!“ Aber noch etwas büßt das Mädchen ein. Die Illusion nämlich, man könne den Toten entkommen. In der Manege bewegt sich die Geschichte in Zirkeln. Patrick Wildermann

Wieder heute, 29.9., und 30.9., 20 Uhr

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