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Vorbild an Bürgersinn. Die Brüder Jacob (1785–1863, r.) und Wilhelm Grimm (1786–1859), gemalt von Elisabeth Jerichau-Baumann.

© AKG

Gebrüder Grimm: Günter Grass' Liebeserklärung an die deutsche Sprache

„Grimms Wörter“ heißt das neue Werk von Günter Grass. Darin besichtigt und bearbeitet der Schriftsteller sein ureigenstes Material, die Sprache. Und er macht Lust auf Grimm.

Es könnte sein, dass dies das letzte Buch von Günter Grass ist. Er selbst hält das für möglich, wie er auf Seite 266 schreibt. Wer 83 Jahre alt ist, muss realistischerweise mit dem Tod rechnen: „Da mir, umringt von mehr und mehr Ungewissheit, einzig der Tod gewiss ist, will ich ihn als ungeladenen, aber unumgänglichen Gast empfangen und allenfalls mit der Bitte belästigen: Mach es kurz und schmerzlos.“ Nicht nur an dieser Stelle, in der er von Jacob Grimms „Rede über das Alter“ erzählt, kommt Grass auf sich selbst zu sprechen. Schließlich liegen zwischen Grimm und Grass nur ein paar Buchstaben des Alphabets. Über „Wortbrücken“ ist er mit den Brüdern Grimm verbunden und nutzt jede Gelegenheit, um aus ihrem, dem 19., in seines, das 20. Jahrhundert hinüberzuwechseln.

„Grimms Wörter“ ist also nicht unbedingt eine Biografie. Vielmehr handelt es sich tatsächlich um das, was der Untertitel verspricht: „Eine Liebeserklärung“. Ihr Gegenstand ist die deutsche Sprache. Die Lebensgeschichte von Jacob und Wilhelm Grimm gibt an dramatischem Stoff auch nicht viel her. Sie waren Bibliothekare, Gelehrte, Wörter- und Märchensammler, die sich vorzugsweise am eigenen Schreibtisch aufhielten.

Das dramatische Potential ist also gering. Doch mit dem einen zentralen und folgenreichen Ereignis setzt Grass ein: der berühmten Erklärung der „Göttinger Sieben“, die 1837 dagegen protestierten, dass Ernst August, König von Hannover, die erst vier Jahre zuvor eingeführte Verfassung in einem Akt der Willkür außer Kraft setzte. Die Grimms unterschrieben, sie fühlten sich durch ihren Amtseid als Göttinger Professoren an diese relativ liberale Verfassung gebunden. Daraufhin verloren sie ihre Ämter, Jacob wurde des Landes verwiesen und begab sich ins hessische Exil. Doch erst aus dieser prekären Situation heraus, „frei“ im doppelten, Marx’schen Wortsinne, nahmen sie die Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“ auf.

Von hier aus erzählt Grass vor allem die Geschichte des mit ihrem Leben und Arbeiten so eng verbundenen Wörterbuches. Damit begibt er sich in die Geschichte der deutschen Sprache und in die deutsche Geschichte überhaupt. Auf diesem weiten Feld geht er entspannt spazieren und sammelt Wörter und Ereignisse wie Blumen und Disteln am Wegesrand. Vom Verfassungsbruch des Königs kommt er auf den Habermas’schen Verfassungspatriotismus zu sprechen und natürlich auch auf sein Lieblingsthema, den Bruch der Verfassung nach 1989, als der Zusatz im Grundgesetz, mit der Vereinigung der beiden Deutschländer sei eine neue Verfassung fällig, gestrichen wurde. Er problematisiert aber auch die Eidestreue der Grimms, indem er die Brücke schlägt zum „blinden Gehorsam“ und zu dem Eid, den er als 17-Jähriger auf die Waffen-SS leistete. Und er rügt den Opportunismus der Göttinger Professorenschaft, die zu der Amtsenthebung der „Sieben“ so feige schwieg wie die deutsche Professorenschaft hundert Jahre später zur Machtübernahme der Nazis.

Der Protest der Grimms ist für Grass aber vor allem ein Vorbild an Bürgersinn und Engagement, mit dem er sich als stets engagierter Bürger identifizieren kann – gerade weil es den Grimms dabei nicht um Ideologien oder um revolutionäres Gehabe ging. Er sympathisiert aber auch mit ihrer späteren Zurückgezogenheit, in der sie sich auf die Arbeit am Wörterbuch konzentrierten und alles Politische nur noch als störend erlebten. Nebenbei lässt Grass die Epoche der Grimms sichtbar werden. Mit wenigen Strichen porträtiert er den reaktionären König Friedrich Wilhelm III., der als überzeugter Zensor die 400-Jahr-Feier zur Erfindung des Buchdrucks verbieten wollte, oder seinen Nachfolger Friedrich Wilhelm IV., der die Hoffnungen, die anfangs auf ihm ruhten, nicht erfüllen konnte.

Stets schreibt Grass so, als werde die Geschichte von ihm weniger nacherzählt als imaginiert. Er ist dabei, wenn die Grimms durch den Tiergarten spazieren, er belauscht ihre Gespräche, ja er setzt sich zu ihnen auf eine Bank gegenüber der Rousseau-Insel, wo einst schon sein „Fonty“ auf den Spuren Fontanes saß. Überhaupt nutzt er jede Gelegenheit, um das eigene Werk gebührend ins Licht zu rücken. Da verschieben sich manchmal die Gewichte, da bekommt der Paulskirchen-Abgeordnete Jacob Grimm dann weniger Raum als die Rede zur Verleihung des Friedenspreises, die Grass rund 150 Jahre später in der Paulskirche hielt und die er nicht müde wird zu zitieren.

An diesen Stellen verliert der Erzählton seine Leichtigkeit und wird unangenehm rechthaberisch. Schade drum: Hätte Grass sich selbst zurückzunehmen gewusst, wäre aus „Grimms Wörter“ ein ganz und gar gelungenes Buch geworden. Das Hin- und Herspringen durch die Zeiten wäre ja anregend, wenn es nicht immer nur zur historischen Bedeutung von ihm himself, Günter Grass dem Ersten, führen würde. Das Übereinanderlegen der Epochen entspricht seinem zeitlichen Konzept der „Vergegenkunft“, wie er es in der „Rättin“ ausführte, und seiner Fähigkeit, über die Jahrhunderte hinweg mit den Kollegen anderer Zeiten ins Gespräch zu kommen – von Simon Dach im „Treffen in Telgte“ bis zu Fontane im „Weiten Feld“ und nun den Grimms.

Auch mit ihnen spricht er, als wären sie gegenwärtig, und wenn Jacob Grimm in der Berliner Akademie seine Rede über das Alter hält, setzt Grass nicht nur sich selbst ins Publikum, sondern auch Hegel, Fichte, Herder und all die großen Toten, die doch in der Sprach- und Kulturgeschichte lebendig geblieben sind. Da möchte er auch seinen Platz einnehmen.

Grass bewegt sich entlang des Alphabets durch die Geschichte, soweit es von den Grimms selbst bearbeitet wurde. Der zielstrebige Jacob übernahm die Buchstaben A bis C, der langsamere Wilhelm kam über das D nicht hinaus. Wilhelm, der weniger wissenschaftliche als poetische Kopf, war dafür die treibende Kraft bei der Herausgabe der Hausmärchen.

Das lexikalische Prinzip des Erzählens kommt Grass entgegen. Was in vielen seiner Romane störend wirkt – wenn sie allzu sichtbar nach einem vorgefertigten Plan in der Wortmetz-Werkstatt zusammengeleimt wurden –, hat hier eine adäquate Form gefunden. Das lockere Springen von Wort zu Wort erlaubt es ihm, die Ebenen spielerisch zu wechseln. Hier besichtigt und bearbeitet ein Schriftsteller sein ureigenstes Material, die Sprache, und lässt uns daran teilhaben. „Grimms Wörter“ ist auch eine Leseanleitung zum Gebrauch des Grimm’schen Wörterbuches. Grass macht Lust auf Grimm.

Das letzte Wort, das Jacob Grimm 1863, vier Jahre nach dem Tod des Bruders, bearbeitete, war „Frucht“. Darüber starb er. Mit einer Fußnote wurde er an dieser Stelle von seinen Mitarbeitern verabschiedet. Der Tod kommt in einem Lexikon ohne große Gesten aus. Doch knapp hundert Jahre dauerte es von da an noch, bis das Wörterbuch abgeschlossen wurde, 1960 in deutsch-deutscher Kooperation. Es umfasst also Kleinstaaterei, Reichsgründung, Kaiserreich, Weimarer Republik, „Drittes Reich“ und deutsche Teilung. Auch das wird resümierend nacherzählt. Geschichte verging nicht nur im Wörterbuch. Fertig ist das Wörterbuch also nicht, vollständig schon gar nicht, denn die Geschichte geht ja weiter, und Grass zählt Worte genug auf, die damals schon fehlten.

Doch es bleibt eine Fundgrube der deutschen Sprache und bewährt sich als erzählbarer Stoff. Das vollbracht zu haben ist eine große Leistung. „Grimms Wörter“ gehört zu den wichtigsten Büchern Grass’ und ist – die Eitelkeitseinschübe beiseite gelassen – vielleicht sein schönstes. Ganz egal, ob es sein letztes ist oder nicht.

Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Steidl Verlag, Göttingen 2010. 368 Seiten, 29,80 €.

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