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Geburtstag: Die Gleichen und die Gleicheren

Jürgen Habermas zum 80. Geburtstag: Wie die Gen-Revolution seine Philosophie herausfordert

Von Gregor Dotzauer

Unheimlich, wie schnell er immer zur Stelle ist. Als Anfang der achtziger Jahre die Postmoderne aufblühte, arbeitete Jürgen Habermas daran, noch einmal den „Philosophischen Diskurs der Moderne“ zu befestigen und die gegenaufklärerische Gefahr zu beschwören, die er in Michel Foucault oder Jacques Derrida verkörpert sah. Als Ende der Achtziger noch kein Hahn nach der Rückkehr der Religionen krähte, spürte er in seinem Essayband „Nachmetaphysisches Denken“ schon jene Bedeutungsgehalte auf, die modernen Gesellschaften durch religiöse Traditionen aufgegeben sind. Und als er zur Jahrtausendwende über den revolutionären Charakter der Biotechnologien nachzudenken begann, war das erste deutsche „Stammzellgesetz“ von 2002 noch nicht verabschiedet.

Habermas hatte stets einen sechsten Sinn für aufkommende Themen, und wo er nicht der Erste war, gelang es ihm, zum Wortführer zu werden. Er erweckte allerdings auch den Eindruck, dass er systematisch die Arrondierung eines Terrains betrieb, das sich nur, weil ihm die Idee des Systems selbst widerstrebte, nicht vollständig rundete. Allein mit der Ästhetik gestattete er sich eine offene Theorieflanke. Zwischen Geschichts- und Sprachphilosophie, Staatsrecht und weltbürgerlichem Völkerrecht pflügte Habermas sonst durch alle Disziplinen und warf unterwegs lediglich die Reste seines antikapitalistischen Gepäcks ab, um es sozialdemokratisch neu zu schultern.

Unschuldig ist bei diesem philosophischen Generalismus nicht einmal die kleinste Äußerung. Als der politische Bürger Habermas 2007 vor dem Untergang des Qualitätsjournalismus warnte, hörte man im Hintergrund den Soziologen. Schon 1961 hatte er in seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die Presse als wichtigstes Instrument einer bürgerlichen Öffentlichkeit hervorgehoben. So sehr er Anwalt einer gerechten Sache war, so sehr verteidigte er die Geschlossenheit seiner Theorie. Im Fall seines Buches „Die Zukunft der menschlichen Natur – Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ (2001) ist das nicht anders.

Früher als andere versuchte er, sein Unbehagen an Eingriffen ins menschliche Erbgut mit Gründen auszustatten. Die Moralisierung der menschlichen Natur im Namen göttlicher Werte war ihm als nachmetaphysischem Denker verwehrt. Doch er zeigte, wie genetische Interventionen unser Verständnis von Autonomie, Freiheit und Gerechtigkeit angreifen. Ja, er sah noch eine viel größere Gefahr in Verzug: So etwas wie eine Gattungsethik könnte unmöglich werden. Bitterernst war ihm seine Sorge. Zugleich entschärfte er im ureigenen theoretischen Interesse die Explosivstoffe, die ihm durch Präimplantationsdiagnostik, embryonale Stammzellenforschung und Klonprojekte zugefallen waren.

Was steht auf dem Spiel? Habermas führte in kantischer Tradition von Anfang an die Selbstaufklärung der Vernunft über ihre Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren fort – nur dass er sie nicht an die Selbstreflexion des Einzelnen bindet, sondern an die Selbstvergewisserung im Miteinander. Zur Subjektivität tritt die Intersubjektivität, die Bewusstseinsphilosophie wird überführt in eine Kommunikationsphilosophie. Habermas appelliert an einen rationalen Commonsense, den er allerdings nicht normativ voraussetzt, sondern in den Strukturen menschlicher Rede aufspürt.

Er erfindet diesen Commonsense nicht, er findet ihn und leitet daraus das Recht ab, auf seine Einhaltung zu pochen. Zwischen Personen basiert seine Diskursethik auf wechselseitiger Anerkennung und der Chance, Rationalität möglichst unverzerrt von Autoritätsstrukturen zu entfalten, zwischen Staaten auf der Verrechtlichung aller Beziehungen. Das ist alles so einleuchtend wie – unheimlich. Keiner seiner postmodernen Gegner (bis auf den Erzrivalen Peter Sloterdijk) blieb für ihn einer. Auf Michel Foucault verfasste er einen sympathisierenden Nachruf, mit Jacques Derrida vereinte er sich im Kampf für Europa. Man kann eigentlich nicht Nicht-Habermasianer sein. Man kann sich nur für den vernünftigen Diskurs entscheiden – oder für die Gewalt. Tertium non datur.

Wenn es nicht eine Wirklichkeit gäbe, die dieser sehr wohl als Ideal formulierten Vernunft fortwährend ins Gehege kommt. Das völkerrechtlich nicht abgesicherte Bombardement Restjugoslawiens durch die Nato 1999 müsse eine Ausnahme bleiben, erklärte Habermas mit schlechtem Gewissen. Den amerikanischen Einmarsch im Irak vier Jahre später verurteilte er rückhaltlos. Äußert sich da der mit einem realpolitischen Sinn begabte Intellektuelle oder der mit zweierlei Maß messende Philosoph?

Was aus der Entschlüsselung des menschlichen Genoms folgt, ist ungleich dramatischer. Denn die Optimierung des Menschen entzieht der kommunikativen Vernunft die Grundlage, je mehr die Gewissheit, dass wir letztlich alle gleich sind, faktisch schwindet. Schon bisher waren Menschen genetisch unterschiedlich ausgestattet. Sie konnten diese naturgegebene Differenz aber in einem Akt der Empathie mitdenken – und gegebenenfalls überwinden. Was bedeutet Gerechtigkeit, wenn jeder aufgerufen ist, seines eigenen genetischen Glückes Schmied zu sein? Werden die Menschen biologisch gleicher oder durch bewussten Variantenreichtum ungleicher? Welches Motiv hätte jemand, der das Bewusstsein seiner eigenen Verletzlichkeit verloren hat, weil er sich genetisch gegen schwere Krankheiten hat imprägnieren lassen, sich um andere Schwerkranke zu kümmern?

Habermas ist zu sehr Realist, um nicht zu ahnen, dass alles, was biotechnologisch möglich ist, sich eines Tages auch verwirklicht. Er weiß außerdem, dass er hochspekulativ verfährt. Insofern ist sein Buch über „Die Zukunft der menschlichen Natur“ so vorsichtig wie verzweifelt. Zu fast jedem seiner Argumente haben selbst befreundete Kollegen Gegenargumente entwickelt, wobei es vor allem zu klären galt, ob es tatsächlich um einen Bruch mit der Gattungsethik geht oder bloß um eine Erweiterung.

Solange Habermas sich mit der Manipulation embryonalen Genmaterials auseinandersetzte, fand er gute Gründe dagegen. Genetisch programmierte Kinder, argumentierte er als Advokat derer, die nicht selber entscheiden durften, könnten sich im Erwachsenenalter nicht mehr „als ungeteilte Autoren ihrer Lebensgeschichte betrachten“. Ihre Eltern hätten mit ihrer Entscheidung „Absichten verbunden, die sich später in Erwartungen an das Kind verwandeln, ohne jedoch dem Adressaten die Möglichkeit zu einer revidierenden Stellungnahme zu geben“. Und er mutmaßte, dass „die Unverfügbarkeit des Naturschicksals für das Freiheitsbewusstsein wesentlich zu sein“ scheint. Aber, fügte er skeptisch hinzu, auch „ für das Selbstseinkönnen“?

Auf den Erwachsenen, der jenseits therapeutischer Notwendigkeiten – wo fangen sie an? Wo enden sie? – gerade im Bewusstsein seiner Freiheit beschließt, sich genetisch manipulieren zu lassen, trifft das so nicht zu. Was die Autorschaft seiner Lebensgeschichte betrifft, dürfte er sogar glauben, sie besser zu beherrschen. Die Begriffe kommen ins Trudeln, wenn man eine allgemeinere Debatte über „Enhancement“ führt, wie es im angelsächsischen Raum heißt. Optimieren wir uns nicht längst mit Medikamenten und Drogen zielstrebig selbst?

Ganz im Bewusstsein seiner unvollkommenen Überlegungen hat Habermas im letzten Jahr zur deutschen Ausgabe von Michael J. Sandels „Plädoyer gegen die Perfektion“ ein knappes Vorwort beigesteuert. Es klingt nur ein wenig hilflos gegenüber der halbtheologischen Kategorie der Demut, die der Harvard-Philosoph einfordert. Die Intuition mag auch Habermas einleuchten. Aber wie hält sie einem vernünftigen Diskurs stand?

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