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Kultur: Gedächtnisverlust

Die Bagdader Nationalbibliothek fiel Bränden zum Opfer – ein unschätzbarer Schaden für die kulturelle Identität des Irak

Angesichts der Meldungen über die Plünderungen und Zerstörungen im Nationalmuseum in Bagdad ist der öffentlichen Aufmerksamkeit fast entgangen, dass auch die irakische Nationalbibliothek durch Raub und Brandschatzung am vergangenen Wochenende unersetzliche Verluste erlitten hat. Während zu hoffen ist, dass die wertvollen Tontafelarchive des Museums vielleicht doch noch in Sicherheit gebracht werden konnten, sind die Verluste der Nationalbibliothek umfassend.

Die im „Palast der Weisheit“ untergebrachte Sammlung war eine Schatzkammer. Zwar konnte die Handschriftenabteilung nicht mit denen von Kairo, Damaskus oder Istanbul konkurrieren; für die Regionalgeschichte des islamischen Mesopotamien war sie dennoch von einzigartiger Bedeutung. Zudem hatte die Bibliotheksleitung in Zeiten, in denen der Irak über viel Geld verfügte, den Bestand an arabischen Handschriften konsequent aufgestockt. Wer weiß, ob von diesen Handschriften Mikro-Filme angefertigt wurden? Und wenn ja, wo befinden sich diese nun?

Neben mittelalterlichen Texten wurden vor allem Manuskripte sowie Tagebücher und Memoiren irakischer Politiker, Gelehrter, Wissenschaftler und Künstler aufbewahrt, die einen Einblick in die moderne irakische Geschichte und Geistesgeschichte ermöglichten. Hinzu kam eine umfangreiche Sammlung von Koran-Manuskripten in den verschiedensten Formen der arabischen Kalligraphie. Deren Zerstörung bedeutet für die Muslime des Irak auch die Zerstörung ihres kulturellen Gedächtnisses. Vernichtet sind wahrscheinlich auch die Belegexemplare der irakischen Buchproduktion seit den 20er Jahren. Ein Verlust mit politischen Folgen: Bagdad, Basra, Mossul und die heiligen Städte der Schiiten, Kerbela, Najaf, Kazimiyya und Samarra waren immer Verlagsorte mit Ausstrahlung in die gesamte arabische und muslimische Welt. Hier wurden zahlreiche Werke der klassischen arabischen Literatur herausgegeben, hier führte man lebhafte intellektuelle Debatten um philosophische, religiöse und politische Fragen. Da diese Auseinandersetzungen auch schriftlich dokumentiert wurden, fand die qualitativ hochstehende irakische Historiographie in der Bibliothek wichtige Quellen.

Dabei hatte die Nationalbibliothek – ebenso wie das Nationalmuseum – bereits unter dem 13-jährigen UN-Embargo schwer gelitten. Defekte Klimaanlagen für die hochempfindlichen Exponate und Handschriften konnten nicht repariert werden, viele Objekte wurden durch Temperaturschwankungen und Feuchtigkeit beschädigt. Aus Kostengründen konnten in dieser Zeit auch keine neuen Werke aus der internationalen Buchproduktion angeschafft werden; die nationale Produktion musste wegen der allgemeinen Papierknappheit weitgehend eingestellt werden. Papier war im Irak in den letzten 10 Jahren so knapp, dass die Studierenden an den Universitäten kaum die Möglichkeit hatten, Vorlesungsmitschriften anzufertigen.

Auch der Export von Büchern war verboten. Saddams Regime wollte auf diese Weise einen Ausverkauf älterer wissenschaftlicher Literatur verhindern. Die Gelehrten- und Intellektuellenfamilien Bagdads verfügten nämlich häufig über umfangreiche Privatbibliotheken, die schon wegen ihrer Zusammensetzung als wichtige kultur- und geistesgeschichtliche Quellen für die Entwicklung des modernen Irak angesehen werden müssen. Um in der Zeit des Embargos nicht zu verarmen, boten viele Familien ihre Bücherschätze auf dem Bazar in der Mutanabbi-Straße zum Verkauf an. Da die Nationalbibliothek nicht in der Lage war, sie aufzukaufen, gingen etliche dieser Sammlungen also schon vor dem Irak-Krieg verloren.

Nach der Zerstörung großer Bibliotheken während der Schiitenaufstände in Kerbela und Najaf im Frühjahr 1991 durch die Republikanischen Garden ist nun eine weitere Ausgangsbasis für die Geschichtsschreibung vernichtet. Dabei war sie für die Entstehung einer nationalen Identität des modernen Irak stets ein wichtiger Faktor. Die Heftigkeit, mit der ethnische und religiöse Gruppen um ihre Beteiligung am Unabhängigkeitskrieg von 1920 stritten, ist nur ein Indiz dafür. Selbst unter Saddam Hussein blieb den Historikern für die Auseinandersetzung mit der Nationalgeschichte bis 1958 ein beträchtlicher Spielraum. Denn wie in den Artefakten der alt-orientalischen Epochen sah das Regime hier eine Möglichkeit zur Schaffung eines irakischen Nationalbewusstseins. Die Zerstörung dieser Quellen lässt nun noch mehr Raum für Verschwörungstheorien und Fehlinterpretationen historischer Ereignisse. Mit dem Brand der Bibliothek ist also nicht nur wertvolles Schriftgut verloren, sondern auch eine zentrale Grundlage für das künftige kulturelle und politische Selbstbewusstsein des Irak nach dem Sturz Saddam Husseins.

Der Autor lehrt Islamwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin.

Peter Heine

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