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Gedenktag: Reden zum 9. November

Alfred Grosser sprach in der Frankfurter Paulskirche über die Reichspogromnacht, Martin Walser in Berlin über den Mauerfall. Unsere Autoren fassen die beiden sehr unterschiedlichen Festreden zusammen.

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Der Eklat, von vielen erwartet, fiel aus, die Spannung blieb. Bis zum Schluss. Die Vertreter des Zentralrats der Juden, die mit ihrem Auszug aus der Frankfurter Paulskirche gedroht hatten, blieben zwar sitzen, aber die Stimmung war frostig. Immerhin war die Paulskirche erstmals seit vielen Jahren wieder bis auf den letzten Platz gefüllt.

Im Vorfeld der Veranstaltung zur Erinnerung an die Pogromnacht von 1938 hatte es Aufregung gegeben. Die Vertreter der Jüdischen Gemeinde Frankfurt waren empört. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, nannte die Einladung an den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 1975, Alfred Grosser, „pietätlos“. Ein erstaunliches Attribut für einen Mann, der 1925 in Frankfurt geboren wurde, 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach Frankreich floh, und sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den unbestrittenen Ruhm eines unermüdlichen Völkerverständigers erworben hat. Warum die Aufregung?

Grosser gilt bei den Juden als Nestbeschmutzer, seit er in der Walser-Bubis-Debatte den Begriff „Auschwitzkeule“ und damit auch Martin Walser verteidigt hatte und danach immer wieder betonte, dass nicht jede Kritik an der israelischen Politik als antisemitisch betrachtet werden müsse. Deshalb war die Ausladung Grossers gefordert worden. Die Stadt blieb bei ihrer Linie. Grosser kam und sprach. Vor ihm aber sprach Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats und neben dem Generalsekretär Kramer einer der Kandidaten für die Nachfolge von Charlotte Knobloch im Vorsitz des Zentral der Juden. Graumanns „Ansprache“, etwas länger als Grossers „Vortrag“, ließ sich als Bewerbungsrede im Wahlkampf verstehen. Mit leicht bitterer Ironie lobte er das sichtbar erstarkte Interesse an dieser Gedenkfeier. Er bat darum, die jüdischen Empfindlichkeiten anzuerkennen, die Gefühle zu verstehen. Und er verwies auf die Veränderungen, auch in der Erinnerungskultur. 90 Prozent der jüdischen Gemeinde verstehen sich nicht mehr als Opfer, sondern eher als Sieger. Sie feiern den 8. Mai, nicht den 9. November. Sie stammen nämlich nicht aus Deutschland, sondern aus der ehemaligen Sowjetunion. Er wollte daher die Juden nicht nur auf ihre Opferrolle reduziert sehen. Aber, das betonte er auch: „Die Shoa ist immer noch in uns.“ Der Beifall für ihn blieb auffällig verhalten.

Dann kam Grosser. Er sprach, nicht frei wie Graumann, sondern sprang zwischen den Notizen, die vor ihm lagen, hin und her, bemängelte den „Mangel an Zugehörigkeitsgefühl“ bei den Jugendlichen zu unserer deutschen Vergangenheit, setzte zu einer Sarrazin-Schelte an, hob die ethischen Grundlagen der bundesdeutschen Nachkriegskultur hervor, den Antifaschismus und den Anti-Stalinismus, und kam endlich auf das zu sprechen, worauf alle gewartet hatten: Israel. Dieses Land sei „Teil des Westens“. Es müsse sich daher der Kritik stellen, der sich jedes westliche Land stellen müsse. „Wir können nur dann unsere Grundwerte predigen, wenn wir sie selbst nicht verletzen.“ Zwei Maximen stellte er als „Grundwerte“ heraus: Erstens, das Leiden anderer anzuerkennen. Zweitens, das eigene Denken auf Distanz zu seinen Zugehörigkeiten zu halten.

Selbstverständlichkeiten, sollte man meinen. Weit gefehlt. Selbstverständlich ist in Bezug auf die Deutsche Vergangenheit und Israel noch immer nichts. Deshalb ist es nützlich, wenn die Routine solcher Gedenktage aufgebrochen wird. In der Frankfurter Paulskirche war das am Dienstagabend der Fall. Und das war auch gut so. Martin Lüdke

Alfred Grosser hatte die jüdische Gemeinde erzürnt, als er sagte, dass nicht jede Kritik an der israelischen Politik als antisemitisch betrachtet werden müsse.
Alfred Grosser hatte die jüdische Gemeinde erzürnt, als er sagte, dass nicht jede Kritik an der israelischen Politik als antisemitisch betrachtet werden müsse.

© dpa

Wer sich zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung mit der Epoche der Teilung und ihren vermeintlichen Gewissheiten beschäftigt, der fühlt sich in eine Art politisches Paläolithikum zurückversetzt. 1977 hatte Martin Walser seine deutschen Phantomschmerzen bekannt: „Leipzig ist vielleicht momentan nicht unser. Aber Leipzig ist mein. Und ich war noch nie in meinem Leben in Leipzig.“ Er rief dazu auf, „die Wunde namens Deutschland offenzuhalten“. 1988 präzisierte er: „Die Teilung ist nicht wegen Auschwitz verhängt, sie ist eine Folge des kalten Krieges.“ Dafür wurde er angegriffen und verspottet.

Nun trägt er seine alten Zitate genussvoll noch einmal vor, als er am Dienstagvormittag in Berlin zum 21. Jahrestag des Mauerfalls den Preis der Deutschen Gesellschaft für seine „Verdienste um die deutsche und europäische Verständigung“ entgegennimmt. Und er erspart seinen Zuhörern auch nicht die Anwürfe seiner damaligen Gegner, die ihm „nationalen Mystizismus“, „Oberflächlichkeit“ und „Geschwafel“ vorwarfen oder schlicht befanden: „Verstand verloren“. Das mag man für nachträgliche Rechthaberei halten – oder für eine unterhaltsame Geschichtslektion.

Seine Widersacher kommen bei Walser nur als „SPD-Vordenker“ oder „Leiter unserer Vertreter in Ostberlin“ vor, er verschweigt ihre Namen, als seien sie nicht satisfaktionsfähig. Gemeint sind Peter Glotz, Egon Bahr und Hans-Otto Bräutigam. Nur „Dr. Schily von den Grünen“ nennt er namentlich, der 1984 anlässlich des Honecker-Besuchs in Bonn gefordert hatte, die Wiedervereinigungspräambel aus dem Grundgesetz zu streichen.
Die Deutsche Gesellschaft, die sich auch für die Errichtung eines Einheitsdenkmals in Berlin einsetzt, verleiht ihren Preis am 9. November jeweils an eine Person aus West und Ost. So hat Martin Walser, der Dichter und Mahner vom Bodensee, in diesem Jahr sein ideales Pendant in Günter de Bruyn gefunden, dem literarischen Beschwörer preußischer Traditionen. De Bruyn wurde 1926, Walser 1927 geboren, beide erlebten den Krieg als Flakhelfer, beide begannen ihre Laufbahn als freie Schriftsteller in den späten fünfziger Jahren und beide – darauf verweist Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Laudatio – haben sich nie mit der deutschen Teilung abgefunden, was bei de Bruyn etwa zur Ablehnung des DDR-Nationalpreises führte.
De Bruyn hat ein bedächtigeres Temperament, seine Rede klingt versöhnlich. Dass die „Trennung nie vollständig vollzogen“ worden sei, sei der „gemeinsamen Sprache“ und den Schriftstellern zu verdanken gewesen, die bis 1989 auch im jeweils anderen Teil des Landes gelesen worden seien. Diese Sprache sieht er durch „Korrektheitsfanatiker“ und Fortschrittsagenten bedroht, die aus Fahrkarten „Tickets“ und aus Einkaufen „Shoppen“ machen. Da wird er ein wenig giftig. Walser hingegen erfüllt seine Lieblingsrolle des Provokateurs, als er mit der im Atrium der Deutschen Bank Unter den Linden reichlich vertretenen „politischen Klasse“ abrechnet. Er bemängelt die „Differenz zwischen Autorität und Kompetenz“ und wünscht sich neue Montagsdemos, diesmal gegen den Afghanistankrieg. Das Volk könnte den Politikern drohen: „Wir gehen erst wieder wählen, wenn der Krieg vorbei ist.“ Christian Schröder

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