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Mary Jo Bang erfindet ständig neue Rollen und Figuren. Sie spannt Assoziationsbögen, die von Alice über Freud und Plato bis zur Popikone Cher reichen.

© promo

Gedichte: Der Bär am Ohr

In einer zweisprachigen Ausgabe zu entdecken ist die amerikanische Lyrikerin Mary Jo Bang.

Erst vor kurzem war Alice wieder in aller Munde. Tim Burton hatte einen 3-D-Fantasy-Film über das Mädchen gedreht, das in ein Kaninchenloch fällt und später im Wunderland auf so merkwürdige Gestalten wie den Märzhasen und den verrückten Hutmacher trifft. Die 1946 in Waynesville, Missouri, geborene Dichterin Mary Jo Bang hat ein Gedicht über Alice geschrieben; das Fantastische wird darin dem rationalen Denken gegenübergestellt, „das mit einer Axt an die Tür des Waldes schlägt“.

In ihrem Arm hält Alice einen schwarz-weißen Panda, der natürlich ausgestopft ist, denn „wer würde sich schon trauen, einen echten Bären so dicht am Ohr zu halten?“ Allerdings beschwört das Gedicht allein dadurch, dass es diese Frage stellt, ein Bild des Mädchen mit dem Panda im Arm herauf – und der Abstand zwischen Möglichkeit und Realität schmilzt zusammen.

Was hier ausgelotet wird, ist der Raum, der dem Möglichkeitssinn gehört. Mary Jo Bang verfolgt ein Konzept der Distanz, sie erfindet ständig neue Rollen und Figuren, spannt in ihren Gedichten Assoziationsbögen, die von Alice über Freud und Plato bis zur Popikone Cher reichen: „Kulturminiatur und gekleidet wie Kleopatra steigt sie / Eine Treppe halbrunder Stufen hinab ...“. Manches wird, wie im Comic-Strip, auch bewusst überzeichnet.

Die zauberhafte Ausstattung der deutschen Ausgabe von Mary Jo Bangs Gedichten mit dem Titel „Eskapaden“ ist alles andere als zufällig. Das von dem amerikanischen Comic-Künstler Matt Kindt illustrierte Buch trifft einen anderen Nerv von Mary Jo Bangs weit gefächertem medialen Interesse. „The Graphic Novel and the Cultural Moment“ heißt ein Kurs, den sie an der Universität von St. Louis, Missouri, betreut. Von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachten Dozentin und Studenten dabei diese gezeichneten Geschichten und lernen so einiges über Blickwinkel, Plot, zeitlichen Verlauf der Handlung und das Verhältnis zwischen Leser beziehungsweise Betrachter auf der einen und Zeichnung und Text auf der anderen Seite.

Das Sehen, das Licht und die Wahrnehmung spielen in Mary Jo Bangs Gedichten eine große Rolle, was damit zu tun haben mag, dass die Dichterin neben einem Studium der Soziologie und einigen Jahren als Hilfsärztin in London auch Fotografie studiert hat. In ihren jüngsten Gedichtbänden nimmt Jo Bang häufig Bezug auf Arbeiten der Bildenden Kunst, von Jasper Johns oder der portugiesischen Künstlerin Paula Rego.

Der deutsche Künstler Sigmar Polke, in dessen Bildern das erzählerische Moment ja deutlich hervortritt, hat sie stark beeindruckt. Ihr 2007 in der Greywolf Press erschienenes Buch „Elegy“ hat Mary Jo Bang Michael Donner Van Hook gewidmet, ihrem Sohn, der 2004 an einer Überdosis Tabletten starb. Diese Gedichte, in denen sie eine Sprache zu finden versucht für diesen Verlust, sind vielleicht die bewegendsten in dieser großartigen deutschen Ausgabe ihrer Gedichte. In „Eine Sonate für vier Hände“ lesen wir über den nun für immer abwesenden Sohn: „Warum bist du nicht, wo du hingehörst? / Ein schwarzer Hut auf einem Haken sagt nichts.“ Volker Sielaff

Mary Jo Bang:

Eskapaden. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem

Amerikanischen von Barbara Thimm.

Luxbooks, Wiesbaden 2011. 220 Seiten, 22 €.

Volker Sielaff

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