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Kultur: Gedichte erfinden

Marcel Reich-Ranicki trifft in Berlin auf Gregor Gysi

„Ich bin dafür, dass man Vögeln statt Ficken sagt“, war am Sonntagvormittag im Deutschen Theater Berlin Marcel Reich- Ranickis deutlichster Beitrag zur Stilistik der deutschen Sprache. Ein Satz, den man getrost nach Hause tragen und behalten sollte. Der andere Merksatz lautete „Eine Kritik muss klar sein“ und „deshalb in Kauf nehmen, vom Betroffenen als grausam empfunden zu werden“. Der Direktive des Meisters folgend, darf hier leider nicht bloß dezent darauf hingewiesen werden, dass Herr Ranicki eitel ist. Zu sagen, er habe ein narzißtisches Problem, wäre zu wissenschaftlich ausgedrückt und fände seine Gnade nicht. Reich-Ranicki sagt, seine Maxime sei: Der Leser müsse ihn verstehen. Deshalb muss hier ganz klar gesagt werden: Reich- Ranicki ist ein Angeber.

Es gibt jugendliche Angeberei, die sich mit dem Älterwerden abschwächt, aber es gibt, und Reich-Ranicki ist ein herausragendes Beispiel, auch eine Form der Angeberei, die sich mit dem Alter steigert. Das ist eigentlich traurig, denn natürlich hat Herr Ranicki seine Verdienste. Ältere Leute erzählen ja gerne, er sei früher einmal ein guter Kritiker gewesen. Die Penetranz allerdings, mit der er selbst im Laufe dieser Matinée, als Gast von Gregor Gysi in der Reihe „Gregor Gysi trifft Zeitgenossen“, immer wieder ins Prahlen verfällt, erstickt irgendwann den Glauben an seine Lauterkeit.

Lieber Herr Reich-Ranicki, das haben Sie doch gar nicht nötig!, möchte man rufen. Sie müssten uns doch gar nicht erzählen, dass sie die Zeitschrift „Die Weltbühne“ verschlungen haben, während Ihre Klassenkamerade nur Karl May lasen. Sie müssten uns uns auch nicht sagen, dass Sie in Ihren eigenen Frühschriften den Ton von Tucholsky und Kerr wiederfinden. Wie Sie allein auf die in der Bundesrepublik unbekannte DDR-Literatur aufmerksam machten. Und schließlich den „Leuten vom Zweiten Deutschen Fernsehen“ erklärten „wie man eine Fernsehsendung macht“.

Gysi bleibt, das ist schade, an diesem Vormittag weit unter seinen Möglichkeiten. Er lässt den Gast sein Leben erzählen, in der bekannten, auswalzenden, sich in epischer Breite wiederholenden Rhetorik, die dann immer noch ein anschauliches Beispiel oder eine Anekdote kennt. Gysi hört die meiste Zeit zu, bricht die Aufgeblasenheit nur selten mit berlinerten Halbsätzen. Seine eigenen rhetorischen Fähigkeiten blitzen nur zwei oder drei Mal auf. Einmal – Ranicki berichtet gerade, wie er mit seiner „Frankfurter Anthologie“ das Gedicht mehr oder minder erstmals in der Deutschen Literatur etabliert habe – da stockt Gysi nach dem Halbsatz: „Sie haben also das Gedicht...“. Pause. Was ist, denkt der Saal: Weiß jetzt selbt Gregor Gysi nicht weiter? Oder will er etwa sagen – manchmal kann man ja Wörter schon hören, bevor sie ausgesprochen sind – „Sie haben also das Gedicht erfunden?“ Nein. Tatsächlich sagt er doch nur „...ihm den Weg geöffnet“.

Das Publikum im ausverkauften Saal liebt Marcel Reich-Ranicki. Es lacht über jeden Großvaterwitz. Das Publikum liebt ihn, weil er, Marcel Reich-Ranicki, der ehemals polnische Jude, der unter den bösen Deutschen gelitten hat, für uns die Guten von den Bösen scheidet. Er hat sein „portatives Vaterland“ in der deutschen Sprache gefunden. Und die Guten der deutschen Kultur nicht mit den Bösen verworfen. Das schmeichelt uns. Dafür wird er von uns, die wir unseren persönlichen Hitler so selten loswerden, geliebt. Reich-Ranicki verkauft uns die Illusion, wir könnten, wie er, den guten Teil vom Deutschen ohne den Bösen haben. Ob das gut gehen kann, hat Gregor Gysi nicht gefragt.

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