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Kultur: Gefangen im Turm

Tankred Dorsts große Weltfabel „Merlin“ an der Berliner Schaubühne: vom Mythos hinein die Gegenwart

Von Peter von Becker

Der Hauptdarsteller ist das Bühnenbild. Die Szene beherrscht, noch bevor das Theater begonnen hat, ein gigantischer offener Rundturm. Schwarzes Eisengestänge, galerieartige Umläufe, drei auf- und abfahrende Ebenen: Spielkreise, Weltkreise. Dazu Metallbrücken in den über Eck gebauten Zuschauerraum, in den Bühnenhimmel, in den Theaterorkus. Eine so enorme, aufwändige Szenerie hat die Berliner Schaubühne wohl nicht mehr gesehen seit Peter Steins Zeiten.

Florian Etti hat diesen Turmraum entworfen für „Merlin oder Das wüste Land“: für Tankred Dorsts gleichfalls enormes, grandioses Stück Welttheater, das die Mythen der Artus-Sage, von der Ritterrunde und vom Gralssucher Parzival mit unserer von Aufklärungs-Enttäuschungen und Zukunftsträumen belagerten Gegenwart verspinnt. Ein Opus magnum, fast ein „Faust III“, und zur Gänze gespielt wohl mehr als zehn Stunden lang – nun hat das Drama zwanzig Jahre nach seinen ersten Aufführungen in Düsseldorf und München und einem Siegeszug durch die Weltszene auch Berlin erreicht. In einer dramaturgisch klugen Dreieinhalbstunden-Fassung, die der junge Düsseldorfer Regisseur Burkhard C. Kosminski inszeniert.

Im Anfang bei Dorst vertreibt Christus in einem elektrischen Weltenbrand die heidnischen Götter (die später, wenn Gott vielleicht tot und die Menschheit am Ende ist, wiederkehren werden), dann hat das erste Wort: ein Clown. Das bezeichnet sofort die Fallhöhe und die Untrennbarkeit von Tragödie und Komödie. Im schwarzen Schaubühnenturm aber beginnt das Spiel kleiner, melancholischer, auch kitschgefährdeter. Da schleichen zwei schlohhaarige Alte durchs große Gestänge, der greise Parzival und eine greise Märchenkönigin, reden im Halbdunkel vom Eiseslicht des Grals – und treten zum Finale noch einmal auf, sind Gott nun näher als dem Gral, der verloren ging. Wie manche Menschheitsträume, etwa die Idee des ewigen Friedens und der Brüderlichkeit, die König Artus als Gesetz der Ritter an seinem runden Tisch verkündet hatte.

Diesen Tisch und die Runde, in der keiner mehr unten oder oben sitzt, wird der Zauberer Merlin erfinden. Merlin ist eine Spottgeburt Mephistos, des Teufels Menschensohn, doch ohne den Purismus und Puritanismus des christlich-göttlichen Ebenbildes. Merlin ist keiner, der sich ans Kreuz schlagen ließe, der schlägt eher selber Haken und macht Nägel mit Köpfen: ein Entertainer und heimlicher Regisseur des Stücks, der die Irdischen zu sich selbst befreien will. Und nachdem sich der glänzend präsente Falk Rockstroh als Schaubühnen-Merlin in der nebelumwaberten Tiefe des Turms aus mancherlei Geburtshäuten befreit und den ersten schwarzen Hampelanzug abgelegt hat, wird er den Abend witzigerweise im Uniformrock eines Heilsarmeegenerals (oder einer Generalin) bestreiten (die intelligent Zeiten, Alter, Geschlechter mischenden Kostüme stammen von Bernd Skodzig).

Merlin spielt mit dem Vaterteufel und den Menschenkindern. Doch nicht alle sind hier so wunderbare Kindsköpfe wie der junge Parzival von André Szymanski. In Halbstiefeln und Wollsocken, mit verdreckten Knien, in schwarzen Ledershorts und nietenbesticktem Jeanswams gleicht er einer Mischung aus Hellsangel und altklugem Balg. Wenn er in der besten Szene der Aufführung als moderner David gegen den Goliath eines eisengepanzerten Ritters kämpft, gegen einen stummen, gesichtslosen Roboter des Mittelalters, und diesen schließlich mit einem Stich seines hölzernen Kinderschwerts erlegt (ein Stich in den Augenschlitz des plötzlich Blut speienden Ungetüms), dann gleicht das erst nur dem Überraschungssieg auf einem Abenteuerspielplatz ns Welt.

Auf den zweiten Blick aber erinnert das grausam groteske Werk des Ritterjungen auch an ganz andere, heutige Kindersoldaten. Und als König Artus bei der Gründung seiner Tafelrunde vom „Heiligen Krieg“ für den künftigen Frieden spricht, sind die Assoziationen mit einem Schlag aktuell. Darin erweist sich immer wieder die Stärke des im besten Sinne zeitlos-überzeitlichen Textes von Tankred Dorst (Vorbild auch für Moritz Rinkes jüngste Adaption der „Nibelungen“). In der Dorstschen Rittergesellschaft soll die Idee des runden Tisches unter anderem Mauern und Grenzen versetzen – das wurde fast ein Jahrzehnt vor der europäischen Wende geschrieben. Jetzt hat sich das Stück, über die gleichfalls schon vorhergesehene Utopie-Verlust-Debatte hinaus, mit neuer Zeitgenossenschaft angereichert.

Man ahnt das alles. Doch sieht es, fühlt und erlebt es nicht immer in dieser Schaubühnen-Aufführung. Der Turmbau zur Fabel bedeutet für die Inszenierung auch eine Gefangenschaft. Die eiserne Dominanz des Baus erzwingt immer gleiche, im Verlauf des Spiels mechanisch wirkende Auf- und Abgänge; in die große Starre hinein sind die Szenen kaum fließend zu verweben, zu vielem hat Ettis Bühnenbild schon unüberwindlich vorgebaut. Und das meist trübe oder mit fantasielosen Effekten arbeitende Licht (von Erich Schneider) schafft auch nicht die illuminierende, illusionierende Gegenkraft. So hängt, neben ein paar Fechtszenen und der Lifemusik einer Minicombo, fast alles ab von der Präsenz der Darsteller.

Und hier zeigt sich die Crux des neuen, verjüngten Schaubühnen-Ensembles, das große personenreiche Stücke kaum gleichwertig besetzen kann. Thomas Bading als allzu schnell ins Weinerliche abgedrehter Artuskönig bleibt ein blasser Elege; und Jörg Thieme hat als Lancelot du Lac weder Statur noch Ausstrahlung, um hier den stärksten und erotischsten Ritter der Runde zu beglaubigen. Damit fehlt auch Lancelots Geliebten, der Artus-Gemahlin Ginreva (Stephanie Eidt) und dem Landmädchen Elaine (Silke Bodenbender) der animierende Partner. Dennoch sind beide, das amüsant ätherisch-energische Provinzgirlie und die herrisch sanfte, von schwermütiger Leidenschaft erfasste Königin, herausragend aus dem meist grauen Mittelmaß der mittelalterlichen Mannsbilder. Selbst Andreas Grothgars Mordred spielt im Stil eines Dritten Richards nur einen Abglanz des verführerischen Mordbuben.

Richtig aber bleibt die Wahl des Stückes. Dieser „Merlin“ eröffnet einen Welt-Raum und nicht nur die Wohnküche von nebenan.

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