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Kultur: Gegen die Stromlinie

Adam Soboczynski entwirft in seinem Fast-Roman „Glänzende Zeiten“ ein Sittengemälde unserer Zeit

Eine Zugfahrt war früher ein Erlebnis: Man winkte zum Abschied lange aus dem Fenster und ließ sich später noch den Wind ins Gesicht wehen, die vorbeirauschenden Strommasten zum Greifen nah. Heute sorgt die Klimaanlage für Frischluft, und die abgedunkelten Scheiben der ICEs lassen tränenreiche Abschiede nicht mehr zu. Die Schuhe werden indes nach wie vor gleich nach dem Betreten des Abteils ausgezogen. Für Adam Soboczynski eine symptomatische Verwechslung von Öffentlichem und Privatem, die unsere Gegenwart charakterisiert: „Dort, dachte ich, wo man sich disziplinieren müsste, lässt man sich gehen, dort, wo man sich gehen lassen sollte, diszipliniert man sich heute.“

In den 29 Episoden seines Buches „Glänzende Zeiten: Fast ein Roman“ entwirft Soboczynski das Sittengemälde einer Zeit, die von dem Drang zur Glätte bestimmt ist. Glatt das Display des Smartphones, auf dem die Kurznachrichten eintrudeln. Glatt der Lebenslauf, glatt die rasierte Männerbrust, geradezu spiegelglatt der Boden in der schicken Altbauwohnung, die selbstverständlich gen Südwesten ausgerichtet ist. Die Diagnose des Mittdreißigers: Der um sich greifende Effizienzwahn und der Hang vieler Menschen zur Selbstgeißelung haben die Freude aus dem Leben verbannt.

Bierselige Hausmeister, die einst schlechtgelaunt ihre Untüchtigkeit zur Schau stellten, sind durch verbindliche, serviceorientierte „Facility Manager“ ersetzt worden, so Soboczynski. Eigentlich eine begrüßenswerte Entwicklung. Doch der „Zeit“-Feuilletonredakteur beklagt die zunehmende Stromlinienförmigkeit und die damit einhergehenden Verluste: Die Moral der Mehrheit fege die Bedürfnisse von Minderheiten hinweg. Verrauchte Bars, in denen das schummrige Licht die Anbahnung einer Liebesbeziehung erst ermöglicht, verwandelten sich in Kinderspielplätze. Navigationssysteme führten jeden abenteuerlichen Ausflug ins Blaue ad absurdum. Authentische Gefühlsregungen wichen einer heuchlerischen Freundlichkeit. Alles nur noch Gefühlsmechanik. Die Hauptpersonen von Soboczynkis Geschichten sind neben dem Erzähler und „der Frau, die ihn gut kennt“ zwei befreundete Paare Ende dreißig und eine junge Französin. Soboczynski lässt sie von einem zwischenmenschlichen Dilemma ins nächste tappen, berufliche Rückschläge wegstecken und alkoholschwanger über die generalsanierte Welt philosophieren.

Für Soboczynski ist die viel beschworene Lebensqualität in Wahrheit eine enthaltsame Lebensfeindlichkeit. Alles Nachlässige und Individuell-Verrückte ist den abstinenten Gesundheitsfanatikern ein Gräuel. Adam Soboczynski betrachtet das disziplinierte Treiben aus der Warte des intellektuellen Flaneurs. Der distanziert-gelassene Geistesmensch ist für ihn das Gegenteil des arbeitswütigen Asketen. Ersterer neige zwar dazu, sich „schadhaft in die Dinge hineinzubohren“, dafür könne er sich jedoch noch wundern, trieben ihm Missstände noch die Zornesröte ins Gesicht.

Viele Episoden in „Glänzende Zeiten“ sind ein wenig redundant, sie enthalten wiederkehrende Situationen und Wendungen, was zuweilen ermüdet. Die Geschichten aber verschränken sich tatsächlich zu einer Art Roman – und Soboczynski versteht es, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die immer seltener werdenden Fluchten des Alltags zu lenken, auf die Normierung der Welt. Stets schwingt bei ihm eine romantische Sehnsucht nach dem Rausch, dem Geheimnisvollen, dem Laster mit; nach einer Zeit, als Bürger noch nicht zu Kunden degradiert wurden. Das Klagen über die antiseptische Lebenswelt ist allerdings ein Jammern auf hohem Niveau. Auch Adam Soboczynski dürfte nichts gegen die Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts haben, sei es das Smartphone oder die sanierte Altbauwohnung. Die Lösung liegt wohl irgendwo dazwischen.

Adam Soboczynski: Glänzende Zeiten. Fast ein Roman.

Aufbau Verlag, Berlin 2010, 224 S., 18,95 €.

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