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Kultur: Gegenwartslos

Flughafen Köln-Bonn, Flugsteig 5: Ein Mann sitzt abseits, nahe der Toiletten, und vergräbt sich hinter der Sonntagszeitung. Man sieht nur seine blaue Anzughose mit Bügelfalte, die Manschettenknöpfe und zwei Hände, die Zeitung haltend mit der Schlagzeile "Aufschwung erst im nächsten Jahr!

Flughafen Köln-Bonn, Flugsteig 5: Ein Mann sitzt abseits, nahe der Toiletten, und vergräbt sich hinter der Sonntagszeitung. Man sieht nur seine blaue Anzughose mit Bügelfalte, die Manschettenknöpfe und zwei Hände, die Zeitung haltend mit der Schlagzeile "Aufschwung erst im nächsten Jahr!" Später, als der Mann die Zeitung senkt, um zur nächsten zu greifen, sieht man das Gesicht von Klaus Kinkel, Bundesaußenminister a.D.. Neben ihm liegen bereits mehrere Zeitungen, die er alle durchgearbeitet hat. Er legt sie aber nicht, wie es der Bügelfalte seiner Hose entspräche, ordentlich zusammengefaltet ab, sondern wirft sie lieblos auf den Nebensitz, so dass der Zeitungsberg wächst und wächst und bald auf Kinkels Kopfhöhe ist. Er greift zur Beilage "Geld & Mehr", pflückt sie auseinander, wirft sie auf den Haufen, dasselbe mit "Motor & Immobilien", "Reise & Genuss", dann knüllt er noch "Kultur & Stil" oben drauf.

Es ist ein sonderbarer Anblick: Kinkel - der ehemalige Außenminister und Stellvertreter des Bundeskanzlers - wie er da so neben der totalen Unordnung sitzt mit seiner akkuraten Brille, fast wie ein Kind, das trotzt und sagt: "Heute räume ich nicht auf!". Die Putzfrau aus Köln / Bonn wird auf jeden Fall ihre Arme sehr weit ausbreiten müssen, um diesen Wust fassen zu können, zumal Kinkel jetzt auch noch seinen Koffer öffnet und einen Stapel Faxblätter & Kopien oben auf den Haufen kippt. Dann greift er zu einer letzten Zeitungsseite und liest: "Das neue Leben Bill Clintons", mit Foto vom Ex-Präsidenten mit dem Ex-Model Naomi Campbell. Es wird berichtet, wie Clinton durch die Welt reist, 200 Vorträge hält und dafür pro Auftritt bis zu 300 000 Dollar erhält. Kinkel sitzt jetzt ganz still da und liest. Der Flug nach Tegel ist schon längst aufgerufen, Kinkel sitzt aber immer noch da mit dem neuen Leben von Bill Clinton, bewegungslos.

Später habe ich auf Kinkels Internetseite gelesen, dass er, also Kinkel, nicht Clinton, am heutigen Donnerstag im FDP-Kreisverband Hornbach im Klosterhotel über "Innere Sicherheit" diskutiert, zusammen mit dem Polizeipräsidenten der Westpfalz, dem Oberstaatsanwalt von Zweibrücken und dem FDP-Stadtverbandsvorsitzenden von Zweibrücken. Am letzten Wochenende stand Kinkel im Paul-Löbe-Haus am Info-Counter, wo die FDP warb mit dem Gewinnspiel "Steuern runter & Wirtschaft rauf". Und dieser Tage wird Kinkel in seiner Funktion als sportpolitischer Sprecher der FDP am "Liberalen Golfturnier" in Fleesensee um den "Walter-Scheel-Pokal" teilnehmen.

Als ich schließlich lese, dass Kinkel in einem seiner letzten Interviews, geführt mit der "Jüdischen Allgemeinen", immer nur zu Westerwelle & Möllemann gefragt wird, nie aber zu Kinkel, muss ich wieder an diesen bewegungslosen Mann am Flughafen denken: Wie er da so sitzt neben einem trotzigen Berg aufgewühlter überregionaler Zeitungen, in denen nicht eine einzige Zeile über ihn steht. Und wie das wohl ist, so ein politisches Leben, in dem man ohne Amt plötzlich nichts mehr ist und eins, zwei, drei in der Versenkung lebt - wenn man nicht gerade Clinton heißt, sondern Höppner, zum Beispiel, oder Diepgen? Schon an Helmut Kohl, diesem einstigen Giganten, kann man sehen, was übrig bleibt: etwas plötzlich Gegenwartsloses. Und wenn wir Kohl heute vergessen haben, was so scheint, haben dann Diepgen oder Höppner je existiert?

Irgendwann, als Klaus Kinkel dann aufsprang und die Clinton-Seite auch auf den Berg knüllte, um in den Bus zum Flugzeug zu steigen, sah ich im Vorübergehen seine zurückgelassenen Faxe. Ein paar Analysen, glaube ich, über die Telekom und ein Entwurf Kinkels zur "Bewegungserziehung im Vorschulalter", der übrigens auch auf Kinkels Internet-Seite steht und von der Pisa-Studie ausgehend, "Bewegung als Grundstein für Lernfähigkeit" fordert, was ich persönlich sehr richtig finde.

Im Bus wollte ich dann eigentlich freundlich "Guten Tag, Herr Kinkel" sagen, aber plötzlich ging das irgendwie nicht mehr. Früher hat Kinkel mit Arafat in Gaza-City den Nahostkonflikt diskutiert, jetzt arbeitet er in Köln/Bonn an der Bewegungserziehung im Vorschulalter - oder kommentiert höflich Möllemanns & Westerwelles Kommentare. Ich weiß nicht, es ist vielleicht albern, aber man spricht nicht einfach amtslose Menschen im Bus an, wenn die Weltpolitik sie gerade überholt. Was hätte ich denn auch sagen sollen: Ich wünsche Ihnen viel Glück für den Walter-Scheel-Pokal?

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