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Geheimkonzert in Wedding: Schrankwand raus, Tote Hosen rein

Die Toten Hosen, lauteste Band Deutschlands, zum Privatkonzert in eine Mietwohnung von 40 Quadratmetern in Wedding einzuladen – kann eine Idee verrückter sein? „Genau deshalb“, sagt der Gastgeber, „haben wir es getan“.

Robert ist spät dran, aber er denkt sich nichts dabei. Er hat ja Vanessas Telefonnummer. Für acht Uhr ist er mit ihr am Nordbahnhof verabredet. Das schafft er nicht, er hat sich auch nicht wirklich beeilt. Sie wollen zusammen auf eine Party gehen, vorher aber noch einkaufen, was man so braucht, damit es ein fröhlicher Freitagabend wird. „Lass dir Zeit“, sagt Vanessa am Telefon.

Ein Abend in Berlin. Er beginnt für Robert ein bisschen orientierungslos, aber mit dem Vorsatz, ihn nicht zu vergeuden. Dass es bald darauf ein ganz und gar nicht gewöhnlicher Abend sein wird, kann Robert nicht wissen.

Zweiter Anruf: Vanessa ist nicht beim Treffpunkt erschienen. Als sie sagt, dass sie schon vorgegangen sei zur Party und dass Robert nachkommen solle, trottet er alleine durch die Gartenstraße, durch den Teil, der immer tiefer nach Wedding hineinführt. Er steigt das schmale Treppenhaus eines alten Sozialbaus hinauf, die Wohnungstür im vierten Stock steht offen. Aber was er da sieht, macht ihn sprachlos. Robert starrt in das Tigergrinsen Campinos, seines Idols. Bei ihrer letzten Begegnung waren sie hunderte von Metern voneinander entfernt und Robert einer von mehreren Zehntausend Konzertbesuchern. Jetzt steht Campino 30 Zentimeter vor ihm und schreit ihm direkt ins Gesicht: „Wir sind wieder da / Wir sind außer uns / Und Rand und Band / Und wir haben keine Zeit für Schlaf!!!“

„Absurd.“ Das ist alles, was Robert einfällt. Er ringt dicht bedrängt von hüpfenden, johlenden Menschen in einer 40-Quadratmeter-Wohnung nach Luft. Es ist entsetzlich heiß und eng. „Absurd“, sagt Robert noch einmal in den infernalischen Lärm der Toten Hosen hinein.

Es war Matzes Idee gewesen, die Toten Hosen aus Düsseldorf zu sich nach Hause einzuladen. Aus dem größeren seiner beiden Zimmer hat er sämtliche Möbel fortgeschafft. Wo Sofa, Couchtisch, Schrank standen, sind jetzt Schlagzeug, Verstärker und Mikrofonständer aufgebaut, zwei Drittel des Raumes nehmen sie ein, der Boden zittert im Krach. Die Nachbarn hat Matze vorgewarnt. Es werde eine befreundete Rockband auf seiner Party spielen, hat er gesagt. Dass er den Nerv gehabt hat, die „lauteste Band Deutschlands“ in den hellhörigen 50er-Jahre-Bau einzuladen, behielt er lieber für sich. Matze hat stattdessen Schokolade in den Etagen verteilt.

Nun hofft er, dass diese Versöhnungsgeste reicht. Matze heißt eigentlich Mathias Küster. Aber Matze wird er von allen gerufen, die an diesem Freitag seine Wohnung bevölkern. Sie haben sich ihre Namen mit Klebestreifen auf die Brust geheftet. Vanessa. Tobi. Basti. Man kann daran die Eingeweihten von den Ahnungslosen unterscheiden. Robert gehört zu den Ahnungslosen. „Es wird auch morgen noch absurd sein“, sagt er und hopst wie wild.

Aus 4500 Einsendungen wählten die Toten Hosen 16 Orte aus

Am Vortag räumt Matze sein Wohnzimmer aus. Sonst fände die Band mit ihren Verstärkern und Instrumenten nicht genügend Platz.
Am Vortag räumt Matze sein Wohnzimmer aus. Sonst fände die Band mit ihren Verstärkern und Instrumenten nicht genügend Platz.

© Doris Klaas-Spiekermann

Um Außergewöhnliches zu erleben, muss der Mensch sein Heim verlassen, die abendländische Kulturgeschichte kennt es nicht anders. Rockkonzerte, Bergbesteigungen – das Abenteuer wartet in der Welt da draußen, an Orten, die unvertraut und fremd sind. Um ein Zwei-Zimmer-Appartement im Wedding, wie Matze es seit ein paar Monaten bewohnt, macht es jedenfalls normalerweise einen Bogen. Aber an diesem Freitag ist es anders. Da wird das Prinzip umgedreht, nach dem es heißt, je weiter man sich von zu Hause entfernt, desto größer das Erlebte. Matze muss keinen Schritt vor die Tür gehen, sondern lediglich für reichlich Bier sorgen und eine Hausratsversicherung haben.

Vor 30 Jahren gaben die Toten Hosen ihr erstes Konzert, 1982 im Bremer Schlachthof. Deshalb kündigte die Band auf ihrer Website an, in diesem Frühjahr eine Reihe von privaten Wohnzimmerkonzerten zu geben, für die sich Fans bewerben konnten. Matze drehte ein Bewerbungsvideo, in dem er und Vanessa ein Lied sangen. Nach der Melodie des Tote-Hosen-Songs „Bonnie & Clyde“ sah man sie vor Resten der Berliner Mauer stehen. „Mit euch will ich die Bude teilen, die mir nicht mal gehört“, lautete ihr Text, „drum kommt vorbei und seid recht laut, die Nachbarn werd’n gestört.“

Aus 4500 Einsendungen wählten die Toten Hosen 16 Orte aus. In den vergangenen Wochen haben sie in einem Partykeller in Hembergen gespielt, in einer Punk-WG in Gießen, sind bei der Freiwilligen Feuerwehr im schwäbischen Gäufelden aufgetreten und bei Ex-Bayern-Profi Jens Jeremies. Und schließlich also auch in einer Wohnung, in die sie gar nicht hineinpassen. „Eigentlich total bekloppt, so was ausgerechnet hier zu machen“, meinte Matze am Vortag. „Aber deshalb machen wir es ja.“

Der erste Termin wurde von der Band kurzfristig wegen Krankheit abgesagt. Matze und seine Mitstreiter hatten bereits alles besorgt. Obst, Joghurt, Fleisch, Bier und Energy-Drinks. Plötzlich waren gute Ausreden nötig gewesen, warum ihre Party verschoben werden musste. Dann, beim zweiten Versuch, eilten sie 24 Stunden, bevor die Toten-Hosen-Techniker anrückten, in Strümpfen durch Matzes Wohnung, um Matzes Leben auseinanderzuschrauben, in Kisten zu verpacken und in den Keller zu tragen. Seine Pokale, seine Urkunden und Medaillien von früheren Judo-Wettkämpfen. Die Helfer waren vorsichtig darauf bedacht, keine Kratzer in den Laminatboden zu machen, als sie das Wohnzimmer ab- und im leer geräumten Schlafzimmer originalgetreu wieder aufbauten. Die Band sollte sich dort in einen Backstage-Bereich zurückziehen können. Matze und seine Freunde hatten extra fünf schwarze Handtücher mit den Namen der Musiker besticken lassen: Campino, Breiti, Kuddel, Andi und Vom. Die legten sie auf dem Veloursofa aus.

„Wir werden auf jeden Fall Ärger kriegen“, sagte Tobi, Matzes ältester Kumpel. Nicht der Lärm oder die Nachbarn machten ihm Sorgen, sondern seine eigenen Freunde. Er setze viel aufs Spiel, fand er. Wenn die Freunde, die man bei dieser speziellen Party übergehen musste, erführen, was er erlebt hatte, was würden sie von ihm denken.

„War natürlich schwer, eine Auswahl zu treffen“, sagte Matze. Als Erstes mussten es natürlich Tote-Hosen-Fans sein. Dann gute Freunde. Und schließlich die, die man nicht unberücksichtigt lassen konnte. Gemeint waren die Freundinnen. Für alle galt: totale Verschwiegenheit. Es war der Versuch, im Facebook-Zeitalter Geheimnisse zu bewahren. „Wenn nur einer sich verplappert, müssen wir die Party abbrechen“, fürchtete Matze. Hunderte von Tote-Hosen-Fans, die in seine Wohnung drängen, das bedeutete Ärger. Ärger, den er sich als Lehrer nicht leisten kann. „Dabei hätten wir am liebsten jedem Menschen erzählt, was wir vorhaben.“

Noch nie hat die Band in einem so kleinen Raum gespielt

Aber dann drohte zunächst Gefahr von ganz anderer Seite. Der Wandschrank klemmte, ließ sich nicht verrücken. Matze kletterte behende auf seinen Bürostuhl, der Stuhl drohte unter ihm wegzurollen.

„Das wär’s jetzt noch, ausrutschen und sich das Bein brechen.“

„Campino hat schon mit gebrochenem Bein gespielt.“

„Ja, aber nicht einen Tag, nachdem es passiert war.“

„Hätte er aber.“

Matze gehört mit seinen 26 Jahren zur jüngsten Generation von Hosen-Fans. Als er die Band für sich entdeckte, war Campino bereits ein Star und der berühmteste Hosen-Song, „Hier kommt Alex“, beinahe so alt wie Matze selbst. Die Zeiten lagen lange zurück, in denen die Toten Hosen es wirklich drauf angelegt hatten, auf irgendeine rasante und dämliche Art aus dem Leben zu scheiden. Die ins Chaos verliebten Dilettanten hatten sich längst in Unternehmer verwandelt, in die Konsenspunker der Republik, die ihren Widerstand gegen das Schweinesystem in große Emotionen umzumünzen versuchten, in Lieder zum Mitgrölen.

In Matzes Leben geht es nicht darum, unangepasst zu sein. Seine Clique besteht aus Menschen, die ihre Jugend noch nicht endgültig abgestreift haben, sich aber fragen, was aus ihnen mal werden soll. Die Lebensmut-Hymnen der Toten Hosen fallen da auf fruchtbaren Boden.

Matze ist in Reinickendorf aufgewachsen. Für sein Physik-Studium zog er ein paar Stationen an der Linie U 8 Richtung Innenstadt. Zeit hat der dunkelhaarige, zurückhaltende Mann nie verschwendet. Sein Masterstudium hat er mit 25 beendet, er ist heute Oberstufenlehrer für Mathematik. Am Morgen hat er noch Abiturprüfungen abgenommen. Im Kopf ist er ohnehin schneller als andere, so schnell, dass sich beim Sprechen die Worte übereinander schieben. „Das sagen meine Schüler auch.“ Früher war er Leistungssportler und Judo-Kämmpfer. Eine mögliche Karriere verfolgte er nicht weiter wegen der hohen Verletzungsgefahr. Ob er sich fragt, was er von seinem Gymnasiallehrerleben noch erwarten kann?

Vielleicht liegt die Antwort in der Leidenschaft, mit der er am Abend über Campinos Mikrofon gebeugt die Zeilen brüllt: „In einer Welt, in der man nur noch lebt, / damit man täglich robotten geht, / ist die größte Aufregung, die es noch gibt, / das allabendliche Fernsehbild.“

Noch nie hat die Band in einem so kleinen Raum gespielt. Gitarrist Kuddel ist die Sache bis zuletzt auch nicht ganz geheuer. Die Toten Hosen, die normalerweise Stadien füllen, würden direkt gegen die Zimmerwand spielen, bedrängt von einem Haufen Leute, die sich auf einem schmalen Streifen entlang dieser Wand verdrücken müssten. Falls jemand stürzte oder sich in den Kabeln verhedderte, würde er in die Geräte fallen. Und welches Echo durften die Musiker erwarten? 30 Menschen sind kein Publikum. Niemand würde sich verstecken können. Was, wenn die Ehrfurcht zu groß bliebe?

Campino beruhigte sich mit dem Satz: „Mal ehrlich, das hier ist auf der Erbärmlichkeitsskala ganz oben, oder?“

„Ist aber auch anstrengender als sonst“

Er meinte das nicht abwertend. Mit den Wohnzimmerkonzerten knüpfen die Toten Hosen an eine alte Tradition an. Allerdings war es damals noch keine Tradition, sondern Bandalltag, zu Konzerten in andere Städten eingeladen zu werden. Gage durften sie nicht erwarten, allenfalls ein Jugendheim, das reichlich Freibier besorgt hatte. Schlaf fanden sie nach dem Auftritt und anschließenden Besäufnis mitunter auf dem Dachboden. Oder sie wurden auf die Kinderzimmer der Punks vor Ort verteilt. Campino, der Konzerte meist langweilig fand, auch eigene, fühlt sich bis heute geprägt durch diese Zeit, in der Musikmachen eine Fortsetzung der Party mit anderen Mitteln war. „Natürlich können wir heute nicht mehr so tun, als wäre alles wie früher“, sagte er. „Es geht auch gar nicht darum, alte Zeiten heraufzubeschwören. Jedes Konzert bringt uns auf einen anderen Planeten.“

„Ist aber auch anstrengender als sonst“, sagte Andi. „Wenn man erstmal da ist, gibt es auch zu trinken. Und dann kommt man nicht mehr weg.“

„Wir haben zwar unsere Kundschafter zu den Kandidaten ausgeschickt, um vorzufühlen, um was für Leute es sich handelt,“ meint Campino, „trotzdem wissen wir nie, was uns erwartet.“

Wenig später steht Campino, der Star, in dem glühend heißen Zimmer zwei Dutzend Irren gegenüber. Die Männer haben sich ihrer Toten-Hosen-Shirts entledigt, jedes Lied wird auswendig mitgesungen. Sie stemmen sich gegenseitig hoch, jubeln, schreien, tanzen. Und Campino, der Fortuna-Fan, streut breit grinsend Bemerkungen darüber ein, dass er keinesfalls hier, im Hertha-Berlin, über Fußball reden wolle. Nach eineinhalb Stunden zahlt es sich aus, dass Matze viele Freunde aus seiner Judo-Zeit hat. Ihre Kondition hält die Stimmung hoch. Sie wird auch befeuert von dem Wissen, dass es bei so Wenigen auf jeden Einzelnen ankommt.

Für die Band ist die „Magical Mystery Tour“ auch ein Probelauf. Seit ihrem Berlin-Konzert in der Waldbühne sind zwei Jahre vergangen. In der Zwischenzeit waren sie in Polen, Kasachstan, Usbekistan, in Istanbul, Jordanien, Israel, Argentinien, fielen in eine Art Winterschlaf und wachten im Studio wieder auf. So nah bei den Fans zu sein, das ist die perfekte Kulisse, um dem Mythos als Liveband weitere Legenden hinzuzufügen. Wobei sie peinlich genau auf den Multiplikatoreffekt achtet. So schieben sich auch Kameraleute durch das Gewühl in Matzes Wohnung. Die drehen für ein Videotagebuch, das die Konzertreihe auf der Band-Website für die Anhängerschar aufbereitet.

Am Ende, als alles vorbei und das Bier leergetrunken ist, zeigt Vanessa ein Foto herum. Sie hat Matze und Tobi und Robert und alle anderen aufgenommen, wie sie gemeinsam mit Campino singen. „Da habe ich mich geopfert“, sagt sie, „und mal nicht mitgesungen, um ein Bild zu machen.“ Matze blickt in den kahlen weißen Raum mit Kachelfußboden, der nun wieder sein Wohnzimmer werden soll. Ihm fehlen die Worte. Ein Vater sagt zu seinem schweißnass-erschöpften Sohn, dass das, was der heute erlebt habe, nur einmal im Leben passiere. „Heiraten kannst du öfter.“

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