zum Hauptinhalt

Kultur: Geister über dem Mittellandkanal Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt Installationen des Gedenkkünstlers Christian Boltanski

Die Erinnerungsmaschine ist gut geschmiert. Seit vielen Jahren hält sie der französische Künstler Christian Boltanski am Laufen.

Die Erinnerungsmaschine ist gut geschmiert. Seit vielen Jahren hält sie der französische Künstler Christian Boltanski am Laufen. Immer wieder kreist er in seinen Arbeiten um den Tod und das Vergessen. Manchmal steckt tatsächlich Mechanik dahinter. Wie auch in seinem neuen Werk, einer monumentalen kinetischen Installation, die er für das Kunstmuseum Wolfsburg und seine Ausstellung „Bewegt“ geschaffen hat. 190 transparente Tücher schweben an Schienen und in verschiedenen Höhen durch die große Halle. Darauf gedruckt sind verblassende Schwarz- Weiß-Fotografien Verstorbener, manchmal überlappen sie sich. Sie geistern durch den Raum, markieren den Fluss der Zeit, vom Baby-Alter bis zum Greis. Es rattert leise. So als stecke hinter dieser Parade ein übergeordneter Plan, als ließe jemand die Puppen tanzen. Boltanski will diese Menschen dem Vergessen entreißen, aber sie sind doch alles andere als Individuen. Die lichte Installation stellt eher simpel fest: Seht her, wir alle verflüchtigen uns. So ist der Lauf der Dinge.

Boltanski erreicht mit den Mitteln des Dokumentarischen und Autobiografischen reine Fiktion. Der Besucher weiß nicht, wer hinter diesen Gesichtern steckt, er kennt ihre Geschichten nicht, er sieht sie mit dem geliebten Hund, beim Gitarrespielen, Heiraten, am Strand. Das ist aber auch die Gefahr, denn zumindest in dieser Arbeit geht das Konzept des 68-Jährigen nicht auf. Einmal kurz flackert jenes traurige Gefühl auf, wenn man auf dem Flohmarkt alte Fotoalben entdeckt, die offensichtlich niemandem wertvoll genug waren, um sie zu behalten. Ansonsten lässt einen dieser hochästhetische Reigen kalt.

Mit der Arbeit knüpft Boltanski an ein Werk an, das sich bereits in der Sammlung des Kunstmuseums befindet und aus aktuellem Anlass ebenfalls noch einmal präsentiert wird. „Menschlich“ von 1994 wirkt wie das Gegenstück zu „Bewegt“: In einem spärlich erleuchteten Raum hängen 1200 Fotografien dicht an dicht, wie in einem Archiv. Boltanski selbst hat einmal gesagt, seine Kunst thematisiere nicht den Holocaust. Aber natürlich kommen diese Assoziationen auf. Nicht nur, weil zwei Bilder in dieser Bibliothek Verstorbener Zeitungsausschnitte von Kindern zeigen, die ihre Eltern kurz nach dem Zweiten Weltkrieg suchen. Die Masse macht’s. Das Aneinanderreihen. Und auch seine eigene Geschichte. Sein Vater hat in einem Versteck im Boden des elterlichen Hauses die Judenverfolgung überlebt.

Boltanski war mehrmals Documenta-Teilnehmer, hat 2010 das Grand Palais in Paris mit einer monumentalen Kleiderberge-Installation gefüllt und ein Jahr später den französischen Pavillon der Venedig-Biennale bespielt. Auch in Berlin ist er präsent: Im Untergeschoss des Reichstags erinnert sein „Archiv der deutschen Abgeordneten“ an alle Politiker von der Weimarer Republik bis 1999. Auch der Name Hitler findet sich auf einem der Metallkästchen, schließlich wurde er gewählt. In der Großen Hamburger Straße hat er an die Brandmauern einer Häuserlücke die Namen derer geschrieben, die einst in dem von Bomben zerstörten Gebäude lebten.

Mit fortschreitendem Alter widmet sich Boltanski vermehrt der eigenen Person. In Wolfsburg lässt er in einer Projektion Selbstporträts vom Säuglingsalter bis heute ineinanderfließen und zeigt so – auf recht banale Weise – das schnelle Altern. Auf der Empore des Kunstmuseums zählt ein Digitalanzeiger mit großen roten Ziffern unermüdlich die Lebenssekunden des Künstlers. Es ist kein Countdown, der nach unten zählt, sondern eine rasante Anhäufung. Stirbt Boltanski, stoppt die Uhr. Dafür wird etwas anderes weiterlaufen, nämlich sein Herzschlag. Er pocht aus vier Lautsprechern in einem abgetrennten Raum, so laut, dass er die ganze Ausstellung beschallt. Außerdem steht im Kunstmuseum eine Box, in der Besucher ihre Herztöne ebenfalls aufzeichnen lassen können. Sie kommen dann zu den anderen 60 000, die der Künstler bereits in seinen „Archives du coeur“ gesammelt hat, auf die japanische Insel Teshima. Dort lässt er sie für die Ewigkeit aufbewahren. Boltanski macht den Tod greifbar, indem er das Leben in den Fokus rückt. Anna Pataczek

Die Ausstellung „Bewegt“ läuft bis 21.7.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false