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Kultur: Gemeinschaft der Verzauberten

Von Frederik Hanssen Shocking! Das Symbol feinster englischer Art ist zum Tummelplatz der Neureichen verkommen.

Von Frederik Hanssen

Shocking! Das Symbol feinster englischer Art ist zum Tummelplatz der Neureichen verkommen. „Vergessen Sie Ascot!“, schrieb die „Sunday Times“ nach dem diesjährigen Turnier. Unter den teuren Hüten stecken mittlerweile viel zu oft keine Damen der Gesellschaft mehr, sondern Eindringlinge, ungezähmte Eliza Doolittles, die sich total daneben benehmen - wie einst die Heldin in „My Fair Lady“ am Rennbahnrand: „Lauf, oder ich streu dir Pfeffer in den Arsch!“

Sand in den Augen glaubte der Besucher aus Berlin dagegen bei der Premiere von Giuseppe Verdis „Macbeth“ jüngst im vornehmen Londoner Opernhaus Covent Garden zu haben. Nicht wegen der opulenten, aber ästhetisch unbedeutenden Inszenierung, sondern beim Blick ins Rund des Zuschauerraums. Als habe der stolze Musiktheatertempel den casual friday ausgerufen, fehlte die nadelgestreifte, paillettenglitzernde Eleganz im Parkett. „Was haben Sie erwartet“, kommentiert der Pressechef: „Wir leben in den Zeiten von Tony Blair!“

Ganz Britannien? Nein, ein kleines Dorf inmitten der sanften Hügel von Sussex trotzt den Geschmacksbesatzern. Hier sind finanzstarke Feingeister noch unter sich. Er würde doch sehr zu dunklem Anzug und Fliege raten, erklärt ein englischer Freund, als er von unserem Plan hört, das Glyndebourne Opera Festival zu besuchen – „for your own comfort“. Und tatsächlich: Beim vielleicht feinsten Festival der Welt liegt die Smokingquote bei mindestens 97 Prozent, die Damen tragen große Abendgarderobe – und flache Absätze. Letzteres erklärt sich aus einer alten Tradition: Hier wird in der Pause auf perfekt gepflegtem englischen Rasen gepicknickt. Seit sich Sir John Christie vor 68 Jahren ein Theater direkt neben sein Herrenhaus in den South Downs, ein paar Meilen landeinwärts von Brighton, bauen ließ, lagert das Publikum zwischen den Akten der Musikdramen auf karierten Decken, holt Sandwiches und Champagner aus dem mitgebrachten Weidenkorb. Ganz Verrückte bringen sogar ihre Kerzenleuchter mit. Nebenan stehen die Kühe auf der Weide und glotzen.

Ein wirklich außergewöhnlicher Tag

In the middle of nowhere ein Opernhaus hochzuziehen, das ist selbst auf der Insel der schrulligen Extravaganzen nichts Alltägliches. Vielleicht zollen die Klassikfans, die vor allem aus der 100 Kilometer nordöstlich liegenden Hauptstadt anreisen, ihrem Gastgeber deshalb mit einem Dresscode Tribut, den die Londoner längst nicht mehr einzuhalten gewillt sind. Vielleicht liegt es aber auch an den Eintrittspreisen: Wer zwischen 75 und 250 Euro pro Ticket hinblättert, will einen wirklich außergewöhnlichen Tag erleben. Und den bekommt er auch, denn Glyndebourne, das ist nicht nur Glamour in ländlicher Idylle, sondern auch Musiktheater vom Allerfeinsten. Hier treffen die Großen des Musikbusiness auf jene, die es noch werden wollen. Simon Rattle gehört zu den Stammgästen, Vladimir Jurowski, der 29-jährige neue Musikchef des Festivals (und bis vor kurzem Kapellmeister an Berlins Komischer Oper) steht am Beginn einer Weltkarriere.

Vergnügungsdampfer im Blumenmeer

Drei Premieren stehen in dieser Saison an: Neben einer neuen „Carmen“ Ende Juli, die vor allem durch das Debut von Anne Sofie von Otter als Titelheldin spannend zu werden verspricht, und Webers „Euryanthe“ als Erstaufführung bei dem Festival, inszenierte Christoph Loy Glucks „Iphigénie en Aulide“. Leider tappen Loy und sein Ausstatter Herbert Murauer in die Klassizismusfalle: Alles sieht unheimlich edel aus, die Figuren bewegen sich mit archaischer Strenge – dabei erzählt die Musik von ungeheuerlichen Seelenstürmen. Ivor Bolton und das Orchestra of the Age of Enlightenment lassen die Partitur erglühen, erfüllen jede spätbarocke Floskel, jeden Ton mit Sinn und Sinnlichkeit, treffen dabei stets den richtigen französischen Tonfall, ebenso wie die exzellent artikulierenden Sänger. So (und nicht watteverpackt) hätte man sich Cherubinis „Médée“-Musik an der Deutschen Oper gewünscht.

Hatte bei der „Iphigénie“ vor allem Veronica Cangemi als anrührend reine Titelheldin mit Engelsstimme begeistert, die noch im Angesicht des Todes liebevolles Verständnis für ihre Peiniger aufbringt, stand tags darauf bei der Wiederaufnahme von Graham Vicks geistlos-pseudoprovokanten „Don Giovanni“ keiner der Solisten im Vordergrund: eine einheitliche Ensembleleistung auf allerhöchstem Niveau. Sensationell auch der Sound, den Louis Langrée mit dem London Philharmonic Orchestra entfesselte: Hier verband sich rhetorische Differenzierungskunst, wie man sie sonst nur von Alte-Musik-Ensembles kennt, mit der Klangpracht des traditionellen Sinfonieorchesters.

Nichts von ihrer legendären Größe hat schließlich Nikolaus Lehnhoffs 1988er „Katja Kabanowa“ verloren, die nun schon ihr drittes Revival erlebt. In Tobias Hoheisels abstrakten Bühnenräumen wirkt Lehnhoffs detailverliebter Realismus nie überdosiert. Von Jiri Kouts hochkonzentrierter Interpretation und dem wiederum phänomenalen London Philharmonic Orchestra getragen, gehen die Sänger bis zum Äußersten (allen voran Orla Boyan als Katja).

Ohne eine Mark vom Staat betreiben die Christies jetzt schon in dritter Generation ihr verrücktes Festival. Trotz der horrenden Preise kommen nur 57 Prozent des Etats aus den Kartenverkäufen, der Rest will mit Geduld und guten Worten bei Sponsoren und Mäzenen eingetrieben sein. Kein Wunder, dass sich die n der Wohltäter wie der britische Adelskalender lesen. Mit Hilfe seiner noblen Freunde gelang es George Christie, dem Sohn des Gründers, vor ein paar Jahren sogar, 45 Millionen Euro zusammenzubekommen, um das zu klein gewordene erste Theater durch einen Neubau zu ersetzen. Seit 1996 steht das Schmuckstück in rotem Klinker nun neben dem Tudor-Adelssitz der Christies. Mit seinen offenen, rund um den hufeisenförmigen Saal laufenden Balkonen wirkt es wie ein Vergnügungsdampfer, der sich seinen Weg durch das Blumenmeer der Parklandschaft bahnt. Die Akustik des ganz in hellem Holz gehaltenen Saals mit seinen 1200 Plätzen lässt selbst für verwöhnte Ohren keine Wünsche offen.

Wie man Vorurteile abbaut

Glyndebourne ist mehr als ein Sommerfestival. Wenn die Saison am 25.August zu Ende ist, gönnt sich die Mannschaft nur eine Woche Atempause. Dann beginnen die Vorbereitungen für die Herbsttournee: Mit Nachwuchssolisten und 14 Trucks tingelt die Truppe durch die Provinz. Und weil auch in England das Klassik-Publikum immer älter wird, setzt die Glyndebourne Touring Opera auf begleitende education programs: In Workshops und Einführungen sollen die Kids ihre Vorurteile gegenüber der traditionellen Kunstform abbauen. Für jene, die bei ihrem ersten Kontakt vom Zauber des Gesangs ergriffen werden, gibt es sogar die Möglichkeit, im legendären Opernhaus Kindermusiktheater-Projekte zu erarbeiten.

„Ich möchte jedem das Gefühl vermitteln, dass auch er zur Gemeinschaft von Glyndebourne dazugehören kann“, betont Katie Tearle, die Leiterin der Jugendarbeit. Mag das angesichts der felsenfest zementierten englischen Klassengesellschaft eher ein Wunschtraum sein – vielleicht wird ja der eine oder andere angespornt, später mal mächtig Kohle zu machen, um sich irgendwann auch im Smoking auf dem kunstvollsten Rasen von Sussex niederzulassen.

Bis 25. August. Informationen unter: www.glyndebourne.co.uk

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