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Kultur: Generation Potter

Caroline Fetscher über Kultbücher als globale Kinderrevolution Im Juli 2023 treffen sich vier junge Leute um die dreißig auf einer Abendgesellschaft in Berlin: Ein taiwanesischer Börsenbroker, ein Reporter aus Helsinki, eine Lehrerin aus Johannesburg, eine Versicherungsagentin aus Buenos Aires. Das Gespräch kommt auf Kindheit und Schule – was sollen die Vier da einander erzählen?

Caroline Fetscher über Kultbücher als globale Kinderrevolution

Im Juli 2023 treffen sich vier junge Leute um die dreißig auf einer Abendgesellschaft in Berlin: Ein taiwanesischer Börsenbroker, ein Reporter aus Helsinki, eine Lehrerin aus Johannesburg, eine Versicherungsagentin aus Buenos Aires. Das Gespräch kommt auf Kindheit und Schule – was sollen die Vier da einander erzählen? Plötzlich zeigt sich: Sie teilen in einer Hinsicht denselben KindheitsKosmos, so, wie es das in der Geschichte noch nie gegeben hat. Es geht hierbei nicht um Alice im Wunderland, Pippi in Takatukaland oder Jim Knopf in Lummerland, sondern um einen sagenhaften Internatsschüler: Harry in Potterland.

Über 200 Millionen Kultbücher hat Joanne K. Rowling bis heute von „HP1“ bis „HP5“ verkauft. Also hatten die Partygäste des Jahres 2023, über alle Ozeane, Gebirgsketten, Sprachbarrieren hinweg, eine unlöschbare Gemeinsamkeit. „Weißt du noch, Harry Potter?“, wird einer von ihnen anfangen. Alle wissen noch. Alle erzählen. Denn sie waren Teil der öffentlich-heimlichen Kinderrevolution um die Jahrtausendwende, als die Zauberlehrlinge sich ihren globalen Mikrokosmos schufen. Auf allen Kontinenten begannen sie den selben Mythos zu teilen. Und in den Köpfen der Kinder von Tokio bis Toronto war die längst totgesagte Welterzählung wieder da, in märchenhafter Gestalt.

Man kann die Harry-Potter-Manie belächeln, verachten, sie als postmodernes Patchwork-Phänomen abtun – ignorieren lässt sich das Ganze nicht. Flankiert von moderner Massenkommunikation, legen die Kinder ein Fundament der Globalisierung, eine kollektive Symbolwelt aus Gut und Böse, geteilten Ohnmachtsängsten und Allmachtsphantasien, und teilen auch die Erfahrung, dass Lesen – verändert. Keine noch so aufwendige Unesco-Kampagne hätte das je erreicht. Der Potter-Boom entstand ja völlig unverhofft. Gerade das bei aller Berechnung doch nie auf einen Welterfolg spekulierende Werk einer britischen Arbeitslosen erreicht, wovon Globalpädagogen nur träumen können. Es gibt Fanclubs in Südkorea und auf Island. Die Minimal-Ideologie der Bücher ist Koran-kompatibel und Bibel-kompatibel, und auch die Sriwittayapaknam Schule in Indien hat eine Fangemeinde. Gut und Böse – diese Kategorien gibt es überall.

„Harry Potter“ erscheint im Russischen, Türkischen, Serbischen, Chinesischen, Vietnamesischen, Finnischen, Persischen, Hebräischen, Spanischen, Französischen. Vor allem aber auf Englisch. Noch nie haben deutsche (oder französische) Buchhandlungen so viele Exemplare eines englischsprachigen Textes verkauft wie jetzt „HP5, „Harry Potter and the Order of the Phoenix“. Wer die Übersetzung in seine Sprache nicht abwarten kann, wühlt sich mit Eifer durch das Original und erlernt wie nebenbei die eine, die große Sprache, die vom British Empire – dem Land der Autorin – übrig blieb: als Lingua Franca der Weltgemeinschaft. Wie Kinder und Jugendliche weltweit an Computerspielen die Kulturtechniken der Gegenwart und Zukunft lernen, besessen, unbremsbar, so eignen sie sich hier ein gemeinsames Symbolsystem an. Vergesst den Inhalt, vergesst den Kommerz. „Harry Potter“ ist pures, instinktives Globalisierungstraining in neuer, spannender Übersichtlichkeit.

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