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Der Popliterat als Büchner-Preisträger: Rainald Goetz

© dpa

Update

Rainald Goetz erhält Georg-Büchner-Preis 2015: Immer jetzt gleich

Irre, aber einfach nur goldrichtig: Der Schriftsteller und Gegenwartsfetischist Rainald Goetz bekommt den Georg-Büchner-Preis 2015.

Es hat ungewöhnlich lange gedauert, bis der Termin für die Bekanntgabe des diesjährigen Georg-Büchner-Preisträgers feststand; in der Regel geschieht das im Mai, spätestens Mitte Juni. Die Verspätung deutet darauf hin, dass sich die wahlberechtigten Mitglieder der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung nur schwer darüber einig wurden, wer diese wichtigste, mit 50 000 Euro dotierte literarische Auszeichnung des Landes diesmal erhalten soll.Sollte es wirklich so streitintensiv und langwierig gewesen sein, dann fragt man sich allerdings: Warum bloß?

Dass die Wahl auf Rainald Goetz fiel, ist alles andere als eine Überraschung – es wurde auch Zeit. Schon viele Jahre fiel sein Name im Vorfeld der BüchnerPreis-Bekanntgaben und danach, wenn wieder einmal die jeweilige Entscheidung bemäkelt wurde. Und so der Preis primär als Werkauszeichnung verstanden wird und erst danach als literarischer Richtungsentscheid, auf dass noch viel Gutes von dem oder der Ausgezeichneten kommen möge: Bei Rainald Goetz weiß man gar nicht, was man zuerst aus dem Bücherschrank nehmen soll, so viel Unterschiedliches steht darin. Er hat Romane, Erzählungen und Theaterstücke geschrieben, es gibt Internet-Tagebücher von ihm, von denen eins zum gedruckten „Roman eines Jahres“ wurde, und Fotobände. Aber allein mit den beiden Blogs, dem 1998 entstandenen „Abfall für alle“ und dem Netz-Tagebuch für den (lange eingestellten) deutschen Ableger des „Vanity Fair“-Magazins, hat Goetz eine (Schreiber-)Zukunft antizipiert, die inzwischen gang und gäbe, ja, reinste Gegenwart ist.

Berühmt wurde Rainald Goetz mit seinem Klagenfurt-Auftritt 1983

Allerdings haftet dem 1954 in München geborenen gelernten Mediziner und Historiker Rainald Goetz seit seinen Anfängen als Schriftsteller in den frühen achtziger Jahren das Wörtchen „Pop“ an. Gemeinhin gilt er als Vertreter der Pop-Literatur, und das bereitet dem alteingesessenen Literaturbetrieb ein gewisses Unbehagen. Vieles, was mit Pop zu tun hat, wird hier für zu leicht befunden, da wird ein Rainald Goetz (oder ein Thomas Meinecke) kurzerhand und fälschlicherweise mit Joachim Lottmann in einen Literaturtopf geworfen.

Und was es für Probleme bereitet, diese Art von Literatur und ihre verschiedenen Ausdrucksformen zu verstehen, hat gerade wieder die etwas rat- und hilflose Jury-Diskussion des Textes von Ronja von Rönne beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis bewiesen. Dazu passt, dass vielen, auch literaturaffinen Menschen zu Rainald Goetz als Erstes sein Auftritt bei ebenjenem Bachmann-Wettlesen 1983 in Klagenfurt einfällt. Damals hatte sich Goetz während der Lesung aus seiner Wort- und Lebensraserei „Subito“ mit einer Rasierklinge die Stirn aufgeritzt und den Text blutend weitergelesen. Das sorgte einerseitsfür einen ordentlichen, bis heute andauernden medialen Knalleffekt, war andererseits aber auch ein demonstratives Bekenntnis zur Verbindung von Literatur und Körper, ein Abgleich von Text und Leben.

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Zwei Monate später erschien mit "Irre" Goetz’ Romandebüt. Ein Pop-, Psychiatrie-, Künstler- und irgendwie auch ein Zerfallsroman, in dem der knapp 30-Jährige sein lebenslanges literarisches Programm vorstellt, seine Gegenwartsfixiertheit benennt und schreibt, nichts sei „so phantastisch überwältigend wie das Authentische, nichts so unglaublich wie die wirkliche Wirklichkeit“.

Pop hin, Punk und Techno her: Goetz steht genauso knietief in der Hochkultur

In ihrer Begründung feiert die Jury der Darmstädter Akademie Goetz als Schriftsteller, „der sich mit einzigartiger Intensität zum Chronisten der Gegenwart und ihrer Kultur gemacht hat“. Diese – mitunter wütende – Intensität macht ihn tatsächlich aus, eine Besessenheit in puncto Wahrhaftigkeit und analytischer Genauigkeit, für die die Sprache häufig nur Mittel zum Zweck ist. Was sicher auch ein Grund dafür ist, dass Goetz vieles ist, aber kein begnadeter Romancier. In „Irre“ erzählt Goetz nicht nur fast dokumentarisch, anhand von Fallbeispielen, aus der Psychiatrie, sondern wie er vom Arzt zum Schriftsteller wird; von seinem Leben als Kulturbesessener, der alles, was in der Kultur passiert, mitschreiben und mitdenken muss.

Pop, diverse Subkulturen, Punk, später Techno mögen für Goetz unablässig sein. Aber er steht zudem knietief in der Hochkultur. So berichtet er in „Irre“ von seiner Begeisterung für den Musik- und Literaturkritiker Joachim Kaiser, etwa für dessen Rezension des Grass-Romans „Der Butt“, den er gleich kauft und verschlingt. Viele Jahre später kann man in der Erzählung „Rave“ von 1998 lesen, wie er mit den Schriften von Niklas Luhmann gewissermaßen an den Plattentellern der DJs steht, um die Beziehungen im sozialen Gefüge der Nacht und der Clubs zu untersuchen; wie diese sich mit jedem Bass, jedem Beat neu organisieren. Gerade „Rave“ ist der vielleicht manischste Versuch, gegenwärtigste Gegenwart zu bannen, die Momente des Glücks und des Grooves in einen Text zu übertragen, die Verhältnisse in Worten zum Tanzen zu bringen „Und der große Bumbum sagte: eins eins eins – und eins und eins und – eins eins eins – und – geil geil geil..“

Goetz verhob sich in den nuller Jahren an einem Politroman

Wenn Goetz, wieder mehr als ein Jahrzehnt später, in dem 2008 veröffentlichten Buch "Loslabern", vordergründig als Klatsch- und Gesellschaftsreporter unterwegs ist – auf der Frankfurter Buchmesse, auf einem „FAZ“-Empfang in Berlin, bei einem Künstlerabendessen –, geschieht auch das immer einer höheren Wahrheit wegen: im Dienst „einer maximalen Ethik der Schrift“. Und unter der Maßgabe, das Sozialverhalten der Mächtigen insbesondere beim Empfang der „FAZ“ zu analysieren: „Die Kanzlerin dozierte, gestikulierte, und Nonnenmacher und die anderen um die Kanzlerin herumsitzenden Chefs nickten ihr bestätigend und zustimmend zu, weil es bei einem solchen Gespräch natürlich nicht nur um den Austausch von Informationen und Argumenten ging, sondern vor allem auch um die Aufführung des kollektiven Einverstandenseins aller Anwesenden mit den bestehenden Verhältnissen, gerade auch denen der Macht.“

Die politische Macht aber war es auch, die Rainald Goetz in eine ausgewachsene Schreibkrise stürzte. Auf Bundespressekonferenzen war er Anfang des neuen Jahrtausends gesichtet worden, eifrigst mitschreibend auf der Besuchertribüne des Bundestags, um einen Roman über den Berliner Politikbetrieb zu verfassen. Jahrelang erschien daraufhin gar nichts von ihm, was Wolfgang-Koeppen-hafte Züge zu tragen begann. Goetz hatte sich, wie er in „Loslabern“ bekennt, „ganz und gar in die Falschheit verrannt“, nicht mal zu „einer ordentlichen Politreportage“ reichte es. Er soll in diesen Jahren gar eine Rückkehr in die Medizin erwogen haben, inklusive Besuchs eines Crash-Fortbildungskurses für jahrelang fachfremd tätige Ärzte an der Charité.

Goetz veröffentlichte zuletzt den Roman "Johann Holtrop"

Mit dem „Vanity Fair“-Blog ging es wieder auf- und werkwärts. „Schlucht“ heißt bezeichnenderweise der Zyklus, an den Goetz sich daraufhin gesetzt hat. Er besteht aus den unterschiedlichsten Teilen: Neben „Klage“ und „Loslabern“ zählt dazu der Fotoband „Elfter September 2010“ und der 2012 veröffentlichte, mit „Abriss einer Gesellschaft“ untertitelte Roman "Johann Holtrop". Dessen Hauptfigur ist Chef eines Medienkonzerns und besitzt nicht zufällig viel Ähnlichkeit mit Thomas Middelhoff. „Johann Holtrop“ ist ein enorm zorniger Roman. Vielleicht hat dieser ewige Zorn, gerade über die Mechanismen der Politik, der Wirtschaft, Goetz in seiner Schreibkrise wieder produktiv werden lassen. „Lob ist schlecht“, heißt es in „Klage“, es erniedrigt „die Welt des Gelobten wie auch den Lobenden. (...) Zustimmung schwächt, Kritik stachelt an, energiefiziert die Welt.“ Der Büchner-Preis ist der Lohn, mit dem Goetz nun klarkommen muss. Georg-Büchner-Preisträger Rainald Goetz, es klingt wirklich noch etwas befremdlich.

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