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Geräuschchor: Die nie gebaute U-Bahnlinie

U 10: Künstler spüren einer U-Bahnlinie zwischen Ost und West nach, die nie gebaut wurde.

Sich mit geschlossenen Augen und erhobenem Zeigefinger um die eigene Achse zu drehen, kann schon ein bisschen peinlich sein. Vor allem, wenn man sich an einem viel besuchten Ort wie dem Mehringplatz aufhält. Und nein, es wird nicht besser, wenn zwölf Leute dasselbe tun.

Vor wenigen Minuten hat die Gruppe noch gelacht, als von „ungewöhnlichen Situationen“ die Rede war, in die man sich begeben würde. Jetzt stehen die Männer und Frauen inmitten einer Parkanlage und streichen sich über die Ohren. Den Herrn auf der Bank, der ab und zu von seinem Buch aufsieht und ungläubig den Kopf schüttelt, gilt es dabei zu ignorieren. Ebenso wie den Gedanken, sich unter einem „Hörspaziergang“ irgendwie etwas anderes vorgestellt zu haben. Oder die daran anknüpfende Frage, was man sich eigentlich unter einem Hörspaziergang vorgestellt hat. Die beantwortet Klangforscherin Ulrike Sowodniok sowieso ziemlich rasch: „Wir wollen dadurch die Umwelt genauer wahrnehmen.“

In Berlin? Dieser lärmenden Stadt voller Polizeisirenen und Autohupen? Genau da. „Wo sonst?“ fragt Grit Ruhland. Die junge Künstlerin hat den „Hörspaziergang“ initiiert. Mit Ulrike Sowodnioks Hilfe möchte sie den Hörsinn der Menschen schärfen. Und mit ihnen einen U- Bahn-Geräuschchor gründen. Jeder, der sich für die BVG und Musik interessiert, kann an Ausflügen in den Untergrund und Gesangsworkshops teilnehmen. Ergebnis soll ein Sammelsurium aus Verkehrslärm und Menschenstimmen sein.

Einen Vorgeschmack gibt’s am U-Bahnhof Möckernbrücke. Jemand in der Gruppe fängt an zu summen. Einige stimmen mit ein, andere niesen und husten. Manche blühen jetzt richtig auf, manche treten ungeduldig auf der Stelle. Bis ein Sicherheitsbeamter kommt und sich lautstark räuspert: „Entschuldigung, dürfte ich fragen, was Sie hier machen?“ Den Schein, den ihm Grit Ruhland unter die Nase hält, untersucht er lange. Verständlicherweise. Das Mammutprojekt, das hinter dieser Wahrnehmungswanderung steckt, ist komplex.

„U 10 – von hier aus ins Imaginäre und wieder zurück“ wurde 2009 von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst ins Leben gerufen. Die NGBK buddelt damit eine U-Bahnlinie aus, die nie fertiggestellt wurde. Denn 1984 übergab die DDR das S-Bahn Streckennetz in die Hände des Westens. West-Berlin musste sich fortan nicht länger beweisen, über genügend Transportmittel zu verfügen, um völlig unabhängig neben seinem ungeliebten Nachbarn zu existieren. Stattdessen nahm es die S1 wieder in Betrieb, die die DDR vorher lahmgelegt hatte, und ließ sämtliche Baupläne für eine ähnlich verlaufende U-Bahn fallen. Das wäre die U 10 gewesen, schwarz ihre Erkennungsfarbe, Rathaus Steglitz über Potsdamer Platz nach Weißensee ihr Verlauf.

Fast 300 Bewerbungen gingen ein, nachdem die NGBK einen Wettbewerb für Künstler ausgeschrieben hatte, die sich mit der U 10 auseinandersetzen sollten. Bedingung war, die Vorschläge für eine Zielgruppe auszurichten, die eher verkehrs- als kunstinteressiert ist. „Beides geht nicht“, meinen die NGBK-Organisatoren. „Unser Publikum geht zu BVG-Festen, nicht auf die Biennale.“ Das Projekt soll nah dran sein an den Menschen unter der Erde, Kontrolleure und Bäckerinnen einbeziehen. Acht Bewerber wurden ausgewählt. Grit Ruhland ist eine davon, Katharina Heilein eine andere. Deren Atelier in Pankow ähnelt dem Wohnzimmer eines Modelleisenbahnfanatikers. Überall liegen Schienen und Treppen im Miniformat. Ganze Stationen hat die Künstlerin, gemeinsam mit ein paar Helfern aus Holzstücken, Heftklammern und Ordnern gebaut. Ihr Ziel ist es, die gesamte Strecke in hundert Metern Länge und 29 U-Bahnhöfen nachzubilden. „Es geht mir um die Historie der Stadt, den Ost-Westkonflikt“, sagt Katharina Heilein. Den bekommt sie bei ihrer Arbeit immer wieder zu spüren. Weißensee etwa bereitet ihr Sorgen. Es gibt kaum Pläne, die verraten, wo genau die Station gewesen wäre.

Mit Experten hat sie geredet, alte Schriftstücke untersucht. Aber manchmal hilft alles nichts, erzählt Heilein. „Dann machen wir Spaziergänge und schauen, wo freie Flächen bestehen.“ Wo die Ausgänge positioniert gewesen wären, wo die Plattformen. Ihre Kunst ist ein Wettlauf mit Stadtplanern, Stahlträgern, Glasgebäuden, der Zeit.

Die NGBK hofft auf eine Heimat für das U-Bahnmodell. Zwar wird es Ende des Jahres an der Haltestelle Schlossstraße präsentiert, eine dauerhafte Ausstellungsmöglichkeit gibt es bisher nicht. Mehr Glück hat Roland Boden, ein dritter Auserwählter im Wettstreit um den schönsten Einfall, den Berliner Unterbau in Szene zu setzen. Sein Werk hat es ins U-Bahnmuseum am Olympia-Stadion geschafft. Es nennt sich „Kronos-Projekt“ und deckt die mysteriösesten Spuren aller U-10-Geschichten auf. Boden hat in aufwendigen Recherchen herausgefunden, dass 1926 eine Zeitmaschine in den Untergrund geschickt wurde. Angeblich platzierte man acht Versuchspersonen in einen umfunktionierten U-Bahnwagen, gab ihnen eine gehörige Menge Kümmelschnaps mit auf den Weg und setzte sie unterirdisch auf der Höhe des Rathauses Steglitz in Bewegung.

Der Clou: Mit Hilfe extrem gemächlicher Raum-Zeit-Vektoren sollte im Inneren des Geräts die Zeit verlangsamt werden. Jegliche Versuche, die Insassen zu kontaktieren, wurden allerdings in der Nazizeit untersagt, betrachtete man das Experiment doch als Ergebnis „jüdischer“ Physik. Ob und wo das Ding heute noch durch die Finsternis düst, weiß niemand. Fest steht, dass der Waggon bisher 317 Meter zurückgelegt haben müsste. Und dass seither 84 Jahre vergangen sind – für die Probanden gefühlte sechseinhalb Stunden.

„Von hier aus ins Imaginäre und wieder zurück“ geleitet in eine Parallelwelt, die viel Spielraum für Fantasie und Spinnerei lässt. Man muss nur mal mit geschlossenen Augen auf die U-Bahn warten. Da kommen einem so einige Ideen. Auch wenn zwölf Leute neben einem stehen.

Der U-Bahn-Geräuschchor trifft sich immer samstags im Quartiersmanagement Mehringplatz, Friedrichstr. 4, Nächster Termin 23. 10., 11 Uhr, Finale am 30. 10, 11.30 Uhr U-Bhf. Hallesches Tor.

Annabelle Seubert

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