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Kultur: Geraubte Heimat

„Flucht, Vertreibung, Integration“: eine große und geglückte Ausstellung im DHM Berlin

Im Koalitionsvertrag haben sich Union und SPD darauf verständigt, in Berlin ein „sichtbares Zeichen“ zur Erinnerung an die Vertreibung zu setzen. Die bewusst schwammig gehaltene Formulierung, die den subkutan schwelenden Streit über ein Zentrum oder ein Netzwerk gegen Vertreibung unter der politischen Decke halten soll, könnte eine allseits belobigte Antwort finden. Nämlich in der Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“, die das Deutsche Historische Museum aus seinem Bonner Schwesterinstitut, dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik, nach Berlin importiert hat und ab heute in seinem Pei-Bau zeigt. Sie fand bereits an ihrer ersten Station ein derart positives Echo, dass viel für die Vermutung spricht, mit der Ausstellung sei besagtes „Zeichen“ zumindest in nuce schon vorhanden. Die Ausstellung wird im Anschluss weiterwandern. Dann aber könnte sie – sicher verändert – ihre Dauerheimstätte in der Bundeshauptstadt finden.

Bei dem brisanten Thema der Vertreibung – aus deutscher Sicht ist damit in erster Linie die Vertreibung von bis zu 14 Millionen Deutschen aus dem mittleren Osten Europas gemeint – Zustimmung quer über die politischen Lager, ja quer durch die beteiligten und betroffenen Nationen zu finden, lässt in der Tat ein Bravourstück vermuten. Nicht eines der political correctness – denn die ist es zum Glück am wenigsten, der sich die Ausstellung verschrieben hat. Ihr geht es, so schlicht sich das liest, um die historischen Tatsachen, soweit man sich diesen, bei so vielen noch virulenten persönlichen Erinnerungen, überhaupt annähern kann. Es gelingt, indem die Ausstellung das Individuelle der Einzelschicksale in Gestalt beispielhaft gewählter, aber nirgends überinszenierter Objekte in den Mittelpunkt rückt. Und indem sie zugleich das Überpersönliche, eben die geteilte und damit zur „nationalen Erzählung“ geronnene Erfahrung vor Augen stellt.

Im Zentrum der auf zwei Etagen präsentierten Objekte steht eine Flüchtlingsbaracke aus Furth im Wald: eine von Abertausenden, die es damals gab, und von denen heute nur noch einige ganz wenige existieren dürften. Solche Baracken bedeuteten die erste Unterkunft nach Flucht und Vertreibung, mit Feldbetten und Kochgelegenheit. Erst später, oft Jahre später, kam die Verteilung auf die einzelnen Bundesländer, kam das, was im Obergeschoss der Ausstellung unter dem Stichwort „Integration“ als die große soziale Leistung der jungen Bundesrepublik gewürdigt wird.

Davor aber liegen die kargen Mitbringsel, die selbstgebastelten Stofftiere für die Kinder, das sinnlos gewordene Schlüsselbund des verlorenen Hauses, der selbstgenähte Brustbeutel für persönliche Dokumente. Die Ausstellung präsentiert ihre so bitter ärmlichen Fundstücke ohne anklagenden, gar reißerischen Gestus. Sondern mit jenem „So war es“, das Raum lässt und Raum schafft für jene Empathie, ohne die die Beschäftigung mit Geschichte, schmerzlicher zumal, abstrakt und gleichgültig bleiben muss.

Aber welche Geschichte wäre, auf der Ebene der Einzelschicksale, nicht schmerzlich? Eben das ist der gemeinsame Nenner, den die Ausstellung und der begleitende, in seiner eindringlichen Nüchternheit ausgezeichnete Katalog immer wieder betonen. Vertreibung ist keine spezifisch deutsche Erfahrung, schon gar keine, die zu einem trotzigen Opferbewusstsein berechtigte, wie es von den Gegnern solcher Erinnerung noch stets unterstellt wurde. Aber es ist eben auch eine deutsche Erfahrung, und zahlenmäßig die umfangreichste Vertreibung, die das an Verbrechen überreiche 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.

Denn auch daran lässt die Ausstellung keinen Zweifel: dass Verbrechen der Vertreibung vorausgehen und sie begleiten. Ohne die Eroberungskriege des NS-Regimes hätte es keine Vertreibung aus dem Osten gegeben. So muss der Besucher durch eine Art „Zeittunnel“, der ihm auf wenigen Metern eindringlich vor Augen führt, welches Regime Vertreibung und Völkermord zur Politik erhoben hat. Aber auch das hat seine Vorgeschichte, und so beginnt die Ausstellung mit dem Genozid an den Armeniern im zerfallenden Osmanischen Reich. Was immer die politischen Ziele waren, die Vertreibung macht alle Betroffenen zu Opfern. Eben das ist die Perspektive, die die Ausstellung einnimmt und die sie gegen jede politische Indienstnahme feit.

Ethnische Homogenität, wie sie sich unter dem ach so gut gemeinten Schlagwort des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ als nationalistisches Bindemittel – und Unrechtsantrieb – erwiesen hat, ist überall eine Chimäre geblieben. Migration ist die Urerfahrung nicht erst des 20. Jahrhunderts, dann aber unter den unendlich ausgeweiteten Möglichkeiten der (Zwangs-)Mobilität in einem nur noch nach Millionen zählenden Maße. Dass die Integration der „Landsleute“, als die die aus dem Osten kommenden Deutschen in den Sonntagsreden interessierter Politiker beschworen waren, so willkommen oft nicht waren, macht die Ausstellung ebenfalls deutlich. Dass die Flüchtlinge in der DDR alsbald „Umsiedler“ heißen mussten – „auf Anordnung der Sowjetischen Militär-Administration“ –, wird gleichfalls an unscheinbaren Papieren gezeigt.

Deutlich wird, dass es die Vertriebenen waren, die die höchste Zeche für die NS-Verbrechen zu zahlen hatten. An einem, dem wohl fürchterlichsten Detailaspekt entzündete sich denn auch die – einzige – Kritik an der Bonner Erstfassung der Ausstellung: an der Hintanstellung der Massenvergewaltigungen, denen die auf sich gestellten Flüchtlingsfrauen ausgesetzt waren. Dieses heikle, in beiden Teilen Deutschlands aus wenngleich unterschiedlichen Motiven lange verdrängte Thema kommt nun deutlicher zur Sprache, in Gestalt von Tagebüchern, die von dem Grauen berichten.

Der von Pferden – oder bei deren Ermangelung von den Flüchtlingen selbst – gezogene Rungenwagen ist das Symbol der Flucht, die im Winter 1944/45 einsetzt. Die in Polen und der Tschechoslowakei bürokratisch organisierte Vertreibung hingegen fand in Güterwagen statt; pervers geradezu, dass die gleichfalls vertriebenen deutschen Antifaschisten, oftmals Flüchtlinge vor dem NS-Regime, in Güterwagen mit Blumenschmuck gesteckt wurden. Eingebrannt ins kollektive Gedächtnis haben sich die bewegenden Bilder zusammengeschossener, am Straßengraben zu Haufen getürmter Trecks, neben denen oder über die hinweg die Panzer der Roten Armee rollen.

Flucht und Vertreibung sind nicht Geschichte geworden. Sie ereignen sich weltweit zu jeder Zeit. Zumindest in Europa muss die Erinnerung an Vertreibung und Entrechtung eine gemeinsame Anstrengung sein. Mit der Bonn-Berliner Ausstellung schrumpft der Streit über die Ausgestaltung des politisch gewollten „Zeichens“ der Erinnerung zur Marginalie: Hier ist ein Zeichen gesetzt, das sichtbarer und eindringlicher kaum sein kann.

Deutsches Historisches Museum, Pei-Bau, bis 13. August, Katalog im Kerber Verlag, 19,90 €, im Buchhandel 26,90 €.

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