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„Bild 950-3“ entstammt der Produktion von 2017.

© Gerhard Richter / Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: David Pinzer

Gerhard Richter in Dresden: Zeiten des abnehmenden Nichts

Sehen als Spiel: Mit seinen abstrakten Gemälden kehrt Gerhard Richter seit einigen Jahren zur Farblichkeit zurück. Das Dresdner Albertinum zeigt neueste Werke von ihm.

Die Farbe explodiert regelrecht. Längliche, rotgelbe Strukturen mäandern über die Leinwand. Oben verlaufen sie senkrecht, darunter waagerecht. In der linken Bildhälfte breitet sich eine vergleichsweise ruhige Fläche aus, geprägt von weicheren Linien, unter denen dunkle Schattierungen aufscheinen.

Aber: Könnte man in dieser Fläche nicht auch einen Teich erkennen? Und in den Schatten Bäume, die sich auf der Wasseroberfläche spiegeln? Wolkengebilde, ein vom Sonnenuntergang gelblich eingetrübter Himmel? Bild 950-3 von Gerhard Richter gibt nichts davon vor. Jede Inhaltlichkeit, die man zu sehen meint, ist Produkt der Vorstellungskraft. Das gilt für alle der 32 Gemälde von Richter, die unter dem schlichten Titel „Neue Bilder“ im Dresdner Albertinum zu sehen sind. Bereits im Februar waren 26 von ihnen im Kölner Museum Ludwig ausgestellt. Aber der Künstler arbeitet schnell: In Dresden sind sieben neue Werke hinzugekommen, unter ihnen auch 950-3, entsprechend dem von Richter selbst entwickelten Nummerierungssystem.

Dem 85-Jährigen macht, das spürt man sofort, das Spiel mit der Farbe in diesen, seinen jüngsten Bildern diebische Freude. Er trägt sie dick und pastos in mehreren Schichten auf, nimmt den Griff des Pinsels, Messer, Spachtel oder eine breite, flache Rakel, verwischt die Farbe, schabt sie teilweise auch wieder ab, legt die Leinwand darunter frei. Das Ergebnis sind Bilder, die in ihrer überwältigenden Buntheit und ihrem allen Interpretationen offenen Facettenreichtum den Betrachter regelrecht anspringen. 946-3 zum Beispiel, mit 175x250 Zentimeter ein vergleichsweise großes Werk. Die Farbpalette wechselt von leuchtendem Grün zu Dunkelrot rechts, im Vordergrund züngelt ein gelbliches Gebilde, in dem man sofort eine Flamme erblicken möchte. Es ist aber keine, nur eine subjektive Projektion – die Einladung, an eine Flamme zu denken.

Eine Wirklichkeit, die wir nicht sehen können

Lässt man sich auf die Bilder ein und vorgefertigte Betrachtungsmuster los, können vor dem geistigen Auge üppige Landschaften entstehen: ein Wald, schroffe Berge, einsame Zypressen, ein Flusslauf, rosagefärbte Schlieren am Himmel. Oder ein Seerosenteich, Monet lässt grüßen. Die Bilder spielen mit der Versuchung, Gegenständliches in ihnen zu erkennen, es sind Reflexionen über die Kraft der Abstraktion. „Abstrakte Bilder sind fiktive Modelle, weil sie eine Wirklichkeit veranschaulichen, die wir weder sehen noch beschreiben können, auf deren Existenz wir aber schließen“, hat Gerhard Richter bereits 1982 gesagt.

Mit den „Neuen Bilder“ kehrt er auch zur Farblichkeit zurück – und zum Optimismus. Richters Oeuvre war seit 2009 von eher zurückhaltender Farbgebung geprägt, kulminierend in dem erschütternden Birkenau-Zyklus von 2014 (973/1-4): vier Gemälde, basierend auf Fotos eines anonymen Auschwitz-Häftlings. Graumarmorierte Flächen, da und dort von schütterem, blutigem Rot durchsprenkelt. Man meint, Schreie zu hören, Asche und Tod zu sehen.

Richter, der gesamtdeutsche Künstler

Auch dieser Zyklus war 2015 im Albertinum ausgestellt, in einem der beiden Räume, die dort ständig für Gerhard Richter reserviert sind. Der eine bietet einen Überblick über sein Schaffen, der andere setzt thematische Schwerpunkte. Diese Räume sind auch Ausdruck der Rückkehr eines verlorenen Sohnes. Denn der gebürtige Dresdner schied im Zorn von seiner Heimatstadt, lernte erst an der Düsseldorfer Akademie, was künstlerische Freiheit bedeutet, und wohnt heute in Köln. Dort befindet sich auch sein selbstentworfenes Atelier. Nach dem Mauerfall begann die Wiederannäherung an seine östliche Heimat. 1994 schenkte er dem Albertinum erstmals eine größere Zahl an Bildern, 2006 wurde das Gerhard Richter Archiv gegründet. So ist Richter heute ein wahrlich gesamtdeutscher Künstler, sein Leben und sein Werk drehen sich um die beiden Pole Dresden und Köln. Das Archiv versteht sich als Forschungszentrum, sammelt unter anderem alles, was über Gerhard Richter in Zeitschriften, Zeitungen, Videos, Büchern oder Katalogen publiziert worden ist. Und gibt, unter seinem Leiter Dietmar Elger, das Werkverzeichnis heraus, den Catalogue raisonné.

Wer in Dresden ist, sollte auch Richters Glasskulptur „Neun stehende Scheiben“ (2010), die mitten in einem der beiden Räume positioniert ist, genauer studieren. Und sich dabei selbst in den Reflexionen der Scheiben betrachten. Die eigene Person erscheint mit jedem Schritt anders, und auch die Bilder an der Wand werden, durch das Glas betrachtet, in jedem Augenblick zerlegt und neu zusammengesetzt. Richter liebt dieses Spiel mit der Vorläufigkeit des Gesehenen, er öffnet auch hier, wie in seinen Gemälden, Raum für individuelle, nicht vom Künstler gelenkte Erfahrungen. In Museum Ludwig erzielte er einen ähnlichen Effekt mit „Zwei Grau“, einem Spiegel aus emailliertem Glas, dessen zwei Paneele leicht gegeneinander gekippt sind. Die Skulptur in Dresden stammt aus dem eigenen Bestand des Gerhard Richter Archivs. Nach dem Ende der aktuellen Ausstellung wird hier vorerst wieder die Dauerausstellung zu sehen sein. Aber nicht lange, denn so viel ist sicher: Der unablässig produktive Gerhard Richter schafft ständig Neues.

Dresden, Albertinum, bis 28. August, Di-So 10-18 Uhr, www.skd.museum

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