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Kultur: Gesang der Fische

Reden ist Missverstehen: Navid Kermani und Alexander Kluge im Haus der Kulturen der Welt

Zufälle, Missverständnisse, Vergangenes und Künftiges, Gelesenes und Gelebtes – das Leben ist ein Flickenteppich, und alle und alles Mögliche weben und nähen daran mit. Sogar die Toten, die erst recht. Navid Kermani hat über das allen vertraute Drunter und Drüber ein sehr dickes Buch geschrieben. „Dein Name“ heißt es, und die Rezensenten haben das vor einem Monat erschienene Werk mit gemischten Gefühlen aufgenommen (Tagesspiegel vom 25.8.). Beeindruckend, grandios, gewaltige Autofiktion, aber auch  Knödel, Ziegelstein, Textlawine, heißt es in den Kritiken. Muss man auf 1200 Seiten wirklich alles aufheben, was einem fünf Jahre lang zugestoßen oder durch den Kopf gegangen ist?

Man muss, meint der Autor, und scheint es an diesem Abend mit jedem Blatt belegen zu wollen, das er aus dem großen „Papierkorb“ (Kermani) fischt. Auf den Begriff bringt es beim Gespräch im Haus der Kulturen der Welt aber sein Partner auf der Bühne, der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge. „Respekt vor dem Geschehenen“ sei es, die Dinge des Lebens eben nicht in eine Hierarchie zu sortieren. „Geschichte ist immer die des Hintermanns“, sagt Kermani und verweist wieder auf Kluge, der von der Erfahrungsarmut heutiger Menschen gesprochen habe. Sie erlebten weitaus mehr durch Medien vermittelt als unmittelbar. Das „politische Moment“ sei es, diese „Lavaschicht von Medienvermittlung“ beiseite zu schieben. „Das sehe ich bei Ihnen und das bewegt mich auch.“ Zoologisch gesehen, sagt Kluge, „wären wir Putzerfische“.

Solche klaren Punkte setzt Kluge immer wieder. Sie geben auch dem Doppel am kleinen Lesetisch immer wieder eine Struktur, die es möglich macht, dem sehr assoziativen Gespräch zu folgen, das Sprünge macht und mäandert und in dem in rascher Folge Hindenburg und der afghanische König, Vergil, John Locke und Adam Smith, beinamputierte GIs und Irans 1953 gestürzter Regierungschef Mossadegh auftauchen und rascher wieder verschwinden müssen, als der Kopf verkraftet.

Sobald Kluge und Kermani an einem Punkt verharren, gibt es etwas zu lernen. Von Kluge etwa über, Verdis Oper zitierend, „Die Macht des Schicksals“. Das sei denn glücklicherweise doch nicht so mächtig, nicht einmal bei Verdi, „den ich liebe“. Schon in der ersten Szene ist eigentlich alles verloren, aber: „Das Schicksal ist löchrig. Das ist etwas Trostreiches.“ Es folgt ein lakonisches Stück aus einem Text Kluges über seine Großeltern mütterlicherseits, eine Ehe, die in wenigen Sekunden gestiftet war, als die junge Frau den jungen Mann sah – „ihr Kapital war ein Entschluss, so spontan war sie nie wieder im Leben“ –, die, womöglich, den Bräutigam, einen Habenichts, anstiftete, ein erfolgreicher Unternehmer zu werden. Was wiederum, so vermutet Enkel Kluge, der Großmutter ein langes Leben verschaffte. Sie wurde 101 Jahre alt: „Er hatte sie ausgestattet. Kein höheres Investment als das.“

Ganz ähnlich die Erzählung Kermanis, Der Großvater, der vom eigenen Vater, einem Geistlichen in Isfahan, fünf Tagesreisen weit nach Teheran geschickt wird, um dort die christliche Schule zu besuchen. „Die 15 Enkel dieses Großvaters haben die Spuren dieser Entscheidung in ihren Lebensläufen.“

Macht haben aber nicht nur das Schicksal und der Zufall. Kermani, der Islamwissenschaftler, kennt auch die Macht des Missverständnisses. Er zitiert den großen Mystiker Ibn Arabi: „Was immer einer im Koran missversteht, es ist das, was Gott ihm in diesem Moment eingeben will. Würden wir alles verstehen, wären wir selbst Gott.“ Gute Theologie, findet Kluge. Aber es ist natürlich mehr. Muslimische theologische Tradition, sagt Kermani, sei es, alle Interpretation einer Koranstelle zu benennen, eine eigene neue anzufügen und dann zu bekennen: „Gott aber weiß es besser.“ Was sind da 1200 Seiten Buch für fünf Jahre Leben? Wer wollte Wichtig von Unwichtig scheiden? Gott allein weiß es. Andrea Dernbach

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