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Die Frauen auf dem Karussell-Schwein hielt ein unbekannter Künstler fest.

© Collection Gerard Levy, Paris

Geschichte der Aktfotografie: Als die Nackten die Zensur besiegten

Um 1900 wurden Aktaufnahmen zur Massenware. Eine aufregende Ausstellung im Berliner Museum für Fotografie zeigt, wie damals ein neues Bild vom Körper entstand.

Die Zeit um 1900 gilt heute als eine Ära von Verspannung, Prüderie und Körperfeindlichkeit. Doch es war auch die Epoche, in der die Moderne begann. Die Menschen befreiten sich von Konventionen und entwickelten ein neues Verhältnis zu ihrem Körper. Kehrt zur Natur zurück!, lautete die Parole der Lebensreform-Bewegung. Was auch hieß: Zieht euch aus!

Einer, der dieser Forderung folgte, war Franz Kafka. Der damals 29-jährige, untergewichtige und an nervösen Beschwerden leidende Schriftsteller mietete sich im Sommer 1912 auf Anraten seines Arztes für vier Wochen in der Kuranstalt „Jungborn“ am Nordhang des Harzes ein. Die „Heimstätte für natürliche Heil- und Lebensweise“ erstreckte sich über mehr als 80 000 Quadratmeter, als wichtigste Kurregel galt es, den Körper so viele Stunden wie möglich dem Licht und der Luft auszusetzen. Das Gelände, auf dem sich die Gäste in hüllenloser Nacktheit bewegten, war streng nach Geschlechtern getrennt. Zur Rast standen hölzerne „Lichtlufthäuschen“ bereit, die sich nach allen Seiten öffnen ließen. Der Patient Kafka wagte es tagelang nicht, seinen mageren Körper den fremden Blicken auszusetzen. Dann tat er es doch und fühlte sich offenbar gut dabei. In einer Notiz lobte er „schöne schwedische Jungs mit langen Beinen“, klagte aber auch: „Alte Herren, die nackt über Heuhaufen springen, gefallen mir nicht.“

„Die nackte Wahrheit und anderes“ heißt eine bemerkenswerte, höchst beeindruckende Ausstellung im Berliner Museum für Fotografie, die in die fremd und grotesk anmutende Welt der vorletzten Jahrhundertwende führt. Der ein wenig alberne Titel ist ein zeitgenössisches Zitat, es entstammt dem Buch „Die Schönheit des menschlichen Körpers“. Zu sehen sind rund 250 Exponate – Fotos, Bücher, Zeitschriften, auch einige Filme –, auf denen sich nackte Menschen zeigen. Sie sind Pioniere einer bis dahin unbekannten Freizügigkeit. Die aus den Beständen der Berliner Kunstbibliothek und der Berlinischen Galerie ausgerichtete, mit Leihgaben aus Paris, Wien und Washington prunkende Schau konstatiert einen medialen Umbruch in der Zeit um 1900. „Der Akt wurde öffentlich und trat damit in eine neue Phase der kulturellen Wahrnehmung ein“, resümiert die Kuratorin Kristina Lowis. Fotos von Nuditäten aller Art entwickelten sich zur millionenfach verbreiteten Massenware.

An den Anfängen der Pornoindustrie standen heute harmlos wirkende Bilder, die im Versandhandel oder unter dem Ladentisch zu erwerben waren und auf Herrenabenden kursierten. Sie wurden unter Euphemismen wie „Studien“, „Sujets artistiques“ und „Études d’après nature“ gehandelt und zeigten Frauen in anstrengenden mythologischen Posen, als Leda, Fortuna, Venus, Nixe oder Potiphars Weib. Es ging ums Geschäft, aber auch – so die These der kulturhistorisch weit ausgreifenden Ausstellung – um Aufklärung und Emanzipation. Nacktheit, die eben noch als anrüchig gegolten hatte, wurde nun als Ausdruck eines neuen, „naturgemäßen“ Daseins gefeiert.

Die Lebensreformer wollen den Menschen zu „Gesundheit, Kraft, Schönheit, Leistungs- und Widerstandsfähigkeit“ führen. Ihr Impetus wendet sich gegen die verklemmten Altvorderen und „gegen die Elemente, Krankheiten und die Schädlichkeit der Kultur“. In der Reformbewegung ist Platz genug für Fortschrittsapostel und Reaktionäre, die Grenzen zwischen Überzeugungstat und Sektierertum sind fließend.

Die Zeitschrift „Die Schönheit“ sieht bereits ein nudistisches Zeitalter heraufdämmern. Auf einem dort gedruckten Foto begrüßt eine nackte junge Frau mit erhobenen Armen den neuen Tag, die Unterschrift lautet: „Morgenandacht“. Andere Bilder präsentieren Paare in paradiesischer Unbeschwertheit („Im Garten Eden“) oder Nackttänzer beim Ringelreihen („Sommerlust“). Gezeigt werden vor allem junge, durchtrainierte Körper, das Ideal entspricht den Vorstellungen von einem gesunden, wehrhaften Volk. Kaiser Wilhelms II. Forderung, Deutschland müsse eine „kräftige Generation“ hervorbringen, prangt jahrelang im Titel des Reformblattes „Kraft und Schönheit“.

In den Reinigungs- und Optimierungsfantasien manifestiert sich auch die Angst vor der Industrialisierung. Die Sehnsucht richtet sich in die Ferne und in die Vergangenheit. Der Maler und Kunsthistoriker Wilhelm von Gloeden, der 1867 wegen eines Lungenleidens nach Sizilien gezogen ist, steigt mit seinen Fotografien eines wieder gefundenen Arkadiens zur europäischen Berühmtheit auf.

Kunstvoll arrangiert er Szenen aus der griechischen und römischen Antike nach, als Modelle dienen ihm unbekleidete, allenfalls einen Lorbeerkranz tragende Knaben und junge Männer, die als Panflötenspieler, Sklaven oder Gottheiten figurieren. Gloeden ist homosexuell, seine Bilder erscheinen in der Zeitschrift „Der Eigene“, einem frühen Organ der schwulen Emanzipationsbewegung. Neben seinen „Hirten am Brunnen“ hat der Herausgeber Adolf Braun ein hymnisches Liebesgedicht gesetzt: „Du bist wie eine Gerte, / So frisch, so schlank und gut / Ich küsse Dich, Geliebter, / Wildsüßes Schelmenblut!“

Ein noch konsequenterer Aussteiger war der fränkische Apothekenhelfer August Engelhardt, dem der Schriftsteller Christian Kracht vor kurzem mit seinem Abenteuerroman „Imperium“ ein Denkmal gesetzt hat. Engelhardt wanderte auf die Südseeinsel Kabakon aus, wo er alle Zwänge der Zivilisation abstreifen, sich ausschließlich von Kokosnüssen ernähren und zum „kokovoren Sonnenmensch“ werden wollte. Eine Postkarte in der Ausstellung zeigt ihn bärtig und langhaarig, mit locker um den Bauch gebundenem Tuch am Palmenstrand. Der wilhelminische Bohemian wirkt wie eine Mischung aus Hippie und Surfer, sechzig Jahre vor dem Sommer der Liebe. Vor seinem Aufbruch in den Pazifik hatte Engelhardt übrigens eine Zeit lang im „Jungborn“ am Harz gelebt, wo ein paar Jahre später Kafka Heilung suchen sollte.

Das Prunkstück der Schau ist ein tischgroßer Foliant aus dem Kriminalmuseum von Hannover, in den Polizeibeamte hunderte von „unsittlichen Darstellungen“ geklebt haben. Die Pappseiten sind abgegriffen, sie müssen sehr oft durchblättert worden sein. Den Kampf mit der Zensur haben die Nackten gewonnen. Olga Desmond, die bei „Schönheits-Abenden“ bloß mit einem Gürtel bekleidet einen Schwertertanz aufgeführt hatte, obsiegte 1908 in einem Gerichtsprozess, bei dem ihr vorgeworfen worden war, das „Schamgefühl gröblich verletzt“ zu haben. Im Treppenhaus des Museums hängt sie auf einem monumentalen Plakat: eine nackte Victoria, noch größer als Helmut Newtons „Big Nudes“.

Museum für Fotografie (Jebensstr. 2), bis 25. August. Di–So 10–18, Do 10-20 Uhr. Der im Nicolai Verlag erschienene Katalog kostet 44 €

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