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Kultur: "Geschichte vor Gericht": Auf der Suche nach Wahrheit - Wie Historiker der Justiz unter die Arme greifen

Historiker erliegen zuweilen der sehr menschlichen Verlockung, sich und ihre Arbeit zu überschätzen: Manchmal gerieren sie sich als Richter über die Vergangenheit und zugleich als Ratgeber für eine bessere Zukunft. Dass ihr Urteil derzeit tatsächlich so gefragt ist wie selten zuvor, zeigen indes aktuelle gesellschaftspolitische Debatten.

Historiker erliegen zuweilen der sehr menschlichen Verlockung, sich und ihre Arbeit zu überschätzen: Manchmal gerieren sie sich als Richter über die Vergangenheit und zugleich als Ratgeber für eine bessere Zukunft. Dass ihr Urteil derzeit tatsächlich so gefragt ist wie selten zuvor, zeigen indes aktuelle gesellschaftspolitische Debatten. Ob bei der Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern, der Rekonstruktion Schweizer Banken-Politik während des Zweiten Weltkrieges oder bei Menschenrechtsverletzungen in aller Welt - zunehmend werden auch die Historiker aufgerufen, bei der Wahrheitsfindung zu helfen. Möglichkeiten und Grenzen der dafür notwendigen Zusammenarbeit mit der Justiz gehen die Beiträge in dem Band "Geschichte vor Gericht" nach.

Besonderes wird von der Zeitgeschichte erwartet: Sie soll unbeteiligt und objektiv erklären, "wie es eigentlich gewesen ist". Nicht zuletzt deshalb, so der Jenaer Historiker Dirk van Laak, haben die Historiker seit den späten 70er Jahren eine hegemoniale Stellung bei der "Vergangenheitsbewältigung" errungen. Dabei profitierten sie von einem kulturellen Wandel, in dem das Vergessen nach und nach das Stigma des Pathologischen erhalten habe, "das Aussprechen von historischer Wahrheit aber als wesentliche Voraussetzung von Vergebung und sozialem Frieden gilt". Von diesem "emphatischen Verständnis von Wahrheit" zeugten Historikerkommissionen und Wahrheitskomitees in Ländern wie Südafrika oder Argentinien.

Nur bedingt nützlich

Auf der Suche nach der Wahrheit treten Historiker - als Zeugen oder Sachverständige - auch in Gerichtsverfahren auf: Dies veranschaulichen die Beiträge über den 1963 eröffneten Auschwitz-Prozess oder den 1997/98 geführten Papon-Prozess, in dem die Rolle der Historiker nach Ansicht Henry Roussos zwar "symbolisch bedeutsam", aber "nur eingeschränkt nützlich" war. Weitere Beispiele für die Bemühungen, Unrecht aufzuklären, illustrieren unter anderem die Aufsätze über die "Bergier-Kommission" in der Schweiz oder den "Stalinismus im Urteil russischer Historiker".

Indes fehlt dem Band die Reflexion über die Grundlagen der Debatte: über historische Realität und damit historische Wahrheit. Es muss ja nicht die Negierung jeder vergangenen Wirklichkeit diskutiert werden, doch auch für ein breites Publikum ist interessant, dass (von Historikern) erzählte Geschichte etwas anderes ist als die vermeintlich tatsächlich geschehene Geschichte. Davon abgesehen, bieten die Beiträge einen guten Überblick über die "Suche nach Gerechtigkeit" und das politische und gesellschaftliche Interesse an der Geschichte, das über das Fach hinaus von genereller Bedeutung ist.

Tillmann Bendikowski

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