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Geschichten aus der Stadt: Der Fahrraddieb und der Zahnarzt

Wie ein EDV-Fachmann einen Fahrraddieb stellte und in einen Gewissenskonflikt kam. Darf man sich auch als Robin Hood fühlen, wenn man einem Armen genommen und einem Reichen gegeben hat? Eine Stadtgeschichte aus Prenzlauer Berg.

Ralf saß mit seiner Frau Lea, Sohn Rudi und Tochter Carola bei seinem Lieblingsgriechen. Freundlich nickte er dem Kellner zu, der gerade die Vorspeise brachte. Dabei merkte er, dass sein Nacken bretthart verspannt war. Er ließ kurz den Kopf kreisen, doch das machte den Schmerz nur schlimmer. Kein Wunder, hinter ihm lag auch ein brettharter Arbeitstag. Ralf war EDV-Experte bei einem Berliner Bankhaus. Genauer gesagt: Er betreute die Computerprogramme, die das Routinegeschäft übernahmen, wenn der letzte Angestellte Feierabend gemacht hatte.

Als Ralf damit nach dem Studium angefangen hatte, war das ein ruhiger Job gewesen. Doch die großen Bankenkrisen der letzten Jahre gingen auch an Ralfs Arbeit nicht spurlos vorbei. Bis Mitte des letzten Jahrzehnts konnte man davon ausgehen, dass die Computer ihre wenigen nächtlichen Geschäfte zur Zufriedenheit des Bankhauses erledigten. In letzter Zeit fiel aber immer häufiger in China eine Reisernte um, oder ein stabil geglaubtes afrikanisches Staatswesen. Von Zeit zu Zeit versuchte auch irgendjemand um zwei Uhr nachts mitteleuropäischer Zeit eine Atomrakete zu testen. Das hatte Kursschwankungen zur Folge, die weit jenseits der Toleranzgrenzen lagen, die Ralfs Vorgänger programmiert hatten. Die alleingelassene EDV begann dann in ihrer Not Unfug zu treiben, den Ralf und seine Kollegen in den nächsten Tagen rückgängig machen mussten. Heute war wieder ein solcher Tag gewesen, und da die EDV ziemlich großen nächtlichen Unfug getrieben hatte, würden die kommenden zwei nicht besser werden. Um seine Familie überhaupt noch wach zu sehen, hatte Ralf sie noch von seinem Schreibtisch aus zum Essen eingeladen.

Nun saß er mit seiner Frau und den beiden Kindern beim Griechen in der Nähe seiner Bank. Das Restaurant befand sich an der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg, dort, wo über den Köpfen der Gäste im Drei-Minuten-Takt die Hochbahn vorbeibrauste und für Sekunden den Lärm der Autos und das Quietschen der Trams übertönte. Den Standortnachteil, den eine lärmende Umgebung mit sich bringt, versuchte der Wirt auszugleichen, indem es für seine Gäste nicht nur den üblichen Gratis-Willkommens-Ouzo gab, sondern das Schnapsglas auf Kosten des Hauses nachgefüllt wurde, wann immer es leer war. Schnell war das Restaurant zum Geheimtipp für Gewohnheitszecher geworden, die sich ihren Ouzo nicht durch die Anwesenheit von Bifteki und Pommes auf dem Tisch vermiesen ließen. Auch unser Mann kippte gerade das dritte Gläschen und prostete den beiden Zechern am Nebentisch wohlwollend zu. „Ralle“, störte seine Frau das Idyll, „da klaut jemand ein Fahrrad!“

Tatsächlich: An einem der Zäune, die die Hochbahntrasse von den Fahrspuren abtrennte, versuchte gerade ein Trainingsanzugträger, das Schloss eines teuer aussehenden Fahrrads mittels eines armlangen, lilafarbenen Bolzenschneiders zu knacken. Ralf rannte los, befeuert von drei Ouzo und ohne nachzudenken. „Ey, aufhören!“, brüllte er dem Dieb zu, als gerade das Schloss mit einem hässlichen Knacken brach. Der Dieb hingegen sah einen offenbar Wahnsinnigen auf sich losrennen, der nicht auf den Verkehr achtete, sondern seine knapp zwei Zentner in geradezu grazilem Sprung über den Zaun wuchtete. Dabei war Ralf in keiner Weise dem Wahnsinn anheimgefallen. Er merkte nur gerade, wie wütend er über diesen bescheuerten Tag war, der hinter ihm lag, und wie gern er irgendjemanden dafür büßen lassen wollte. Der Dieb ließ das stählerne Werkzeug in seiner Hand einfach fallen und rannte los. Ralf sicherte das Fahrrad. Plötzlich hörte er hinter sich ein Brüllen.

„Klasse, Mann! Du das Fahrrad, wir den Typen!“ Die beiden Männer vom Nebentisch hatten die Verfolgung aufgenommen. So geschah es, dass die drei Rächer des geknackten Schlosses mit reicher Beute ins Lokal zurückkehrten. Das Fahrrad auf Ralfs Armen hörte auf den Markennamen „Eddy Merckx EMX3“, Kostenpunkt 2700 Euro.

Die beiden anderen schleppten den Dieb kurzerhand in ihrer Mitte herbei. Der sah in diesem Moment ebenso verängstigt wie abgerissen aus. Hätten sie ihm seine Schuhe und den Trainingsanzug abgenommen und online verkauft – maximal wäre mit dem so gewonnenen Geld der Erwerb eines halben Bolzenschneiders möglich gewesen. Der Wirt rief die Polizei, die zehn Minuten später erschien.

„Na, wer ist denn unser Robin Hood?“, fragte einer der Beamten leutselig, während er den rechten Arm des Diebs auf den Rücken bog, dass dessen Schmerzensschrei geklungen hätte wie das Brechen eines Fahrradschlosses. Vorausgesetzt, Mann und Arm wären aus Stahl gewesen statt aus Fleisch und Blut. „Papa, hier unser Papa!“, jubelten Ralfs Kinder.

Die Sicherheitskräfte übernahmen den Rest der Arbeit. Der Wirt übernahm das Ausschenken der Freigetränke. Dass er auch die Chance genutzt hatte, eine Familien-Feiertagsplatte „Helios“ und mehrere Flaschen Retsina loszuwerden, merkte Ralf erst, als er am nächsten Morgen den beklagenswerten Zustand seines Geldbeutels bemerkte. Es gelang ihm, sich durch den Arbeitstag zu schleppen, ohne dass die Kollegen allzu viel mitbekamen. Zu Hause legte er sich aufs Sofa, schluckte zwei Schmerztabletten und platzierte einen kalten Umschlag auf seiner Stirn.

Dann klingelte das Telefon. Es war der Polizist, der dem Dieb am Vortag um ein Haar den Arm ausgekugelt hatte. „Wollten uns noch mal bei Ihnen bedanken. Bei dem Dieb handelt es sich übrigens um einen notorischen Kleinkriminellen. Schwarzfahren, Bettelei. Na ja, seine Bewährung dürfte der verspielt haben. Das Fahrrad hat der Besitzer auch schon wieder. Netter Kerl. Zahnarzt mit eigener Praxis in Potsdam. Also: Wenn Sie mal dringend eine Plombe brauchen, bei dem Herren haben Sie auf jeden Fall was gut. Soll ich Ihnen die Telefonnummer geben?“

„Ach nein, das ist nicht nötig“, murmelte Ralf und legte auf. Dann nahm er den Umschlag von der Stirn und schenkte sich stattdessen ein Glas Wein ein. Während er den ersten Schluck nahm, formierte sich in seinem Kopf eine unangenehme Frage: Darf man sich eigentlich auch dann als Robin Hood fühlen, wenn man einem Armen genommen und einem Reichen gegeben hat?

Knud Kohr

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