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Kultur: Gewalt im US-Kinderzimmer: Blut und Spiele

Auch wer die USA gut zu kennen meint, ist immer wieder verblüfft darüber, wie anders die Uhren in diesem Land ticken. Jüngstes Beispiel ist der Umgang der amerikanischen Justiz mit zwei jugendlichen Verbrechern.

Auch wer die USA gut zu kennen meint, ist immer wieder verblüfft darüber, wie anders die Uhren in diesem Land ticken. Jüngstes Beispiel ist der Umgang der amerikanischen Justiz mit zwei jugendlichen Verbrechern. Der erste Fall betrifft einen jungen Schwarzen aus Florida namens Lionel Tate. Er war 12 Jahre alt und wog 166 amerikanische Pfund, als er einem kleinen Mädchen, das damals sechs Jahre alt war und 46 Pfund wog, im Ringkampf den Schädel eindrückte. Vergeblich machte der Rechtsanwalt des Jungen geltend, sein Mandant sei ein süchtiger Zuschauer von Wrestling-Kämpfen im Fernsehen und habe nur die spektakulären "stunts" seiner Helden Sting, Hulk Rogan und The Rock nachgeahmt, etwa die "Technik", einen kopfunter gehaltenen Gegner wiederholt auf den Boden zu stoßen. Der inzwischen 14-jährige Junge wurde vom Gericht als Erwachsener behandelt und zu lebenslangem Gefängnis verurteilt. Im zweiten Fall handelt es sich um den weißen, 15-jährigen Schüler Andrew Williams, der in Santee, Kalifornien, mit der Waffe seines Vaters zwei Schüler erschoss und 13 weitere verletzte. Amerikas Zeitungen waren voll von Berichten darüber, dass der bei seinem Vater aufwachsende Junge von seinen Schulkameraden wegen seiner kleinen Statur regelmäßig gehänselt und brutal verprügelt wurde. Auch er wird in San Diego als Erwachsener vor Gericht gestellt und kann froh sein, wenn er "nur" zu etlichen hundert Jahren Gefängnis verurteilt wird.

Es ist noch nicht lange her, dass in Texas, der Heimat des neuen Präsidenten Bush, ernsthaft erwogen wurde, schon zwölfjährige Mörder auf den elektrischen Stuhl zu setzen. Bush, der als Gouverneur von Texas mehr als die Hälfte aller Todesurteile in den USA vollstreckten ließ, brillierte denn auch anlässlich der Ereignisse in Santee mit der Analyse, jeder Lehrer und jedes Elternpaar könne schließlich Gut von Böse unterscheiden und müsse nur die entsprechenden Kenntnisse an die nächste Generation weitergeben. Richard Cohen von der "Washington Post" konterte, der junge Andrew habe wahrscheinlich genau deswegen geschossen, weil er diesen Unterschied kannte und Böses mit Bösem vergelten wollte; hätte er keine Waffe im Haus des Vaters gefunden, hätte er für seine Rachegefühle einen anderen Ausweg suchen müssen.

Wer die kindlichen, kaum halberwachten Gesichter der Delinquenten im Fernsehen gesehen hat, ihre Hilf- und Ratlosigkeit, die Unfähigkeit des jungen Lionel, den Urteilsspruch "lebenslänglich" auch nur zu ermessen, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er Zeuge einer barbarischen Veranstaltung wurde. Die wohl experimentierfreudigste Nation der Welt leistet sich einige fantastisch offensichtliche Sehlücken, "blind spots", wenn es um die Ursachenanalyse und Schuldzuweisung bei solchen Jugendverbrechen geht. Es gibt mehr zugelassene Waffen in den USA als Erwachsene. Aber wenn Kinder zu diesen Waffen greifen, werden nicht die Eltern, die diese Waffen halten, und nicht die Waffenindustrie, die sie verkauft, zur Verantwortung gezogen, sondern die Kinder. Auch die Demokraten halten sich mit Kritik an der Waffenindustrie inzwischen auffällig zurück. Viele meinen, dass sie wegen ihrer zarten Angriffe gegen diese mächtige Lobby die Wahl verloren haben. Und Amerikas Fernsehen ist das gewaltbesessenste der Welt. Wenn dort eine weibliche Brustwarze zur Tageszeit auf dem Schirm erscheint, steht die Nation Kopf. Dieselbe Nation findet aber nichts dabei, dass ihre Kleinen in den Fernseh-Comics und Werbespots vom Aufstehen bis zur Schlafenszeit mit Szenen extremer Gewalt verwöhnt werden. Egal, wann man den Fernseher einschaltet, unentwegt fliegen abgeschlagene Arme und Glieder durch die Luft, Blutkaskaden schießen aus durchtrennten Hälsen, Menschen werden zerflammt, und der alles vernichtende amerikanische Feuerball fehlt in keiner Werbung für den Abendfilm. Der Vorwand für die liebevolle Ausmalung all dieser Scheußlichkeiten ist natürlich hochmoralisch: Es handelt sich jeweils um den Kampf Gut gegen Böse.

Einzigartig ist dabei wohl die ideologische Verbohrtheit, mit der die offensichtliche Lust an brutalen Gewaltszenen in den Dienst einer angeblichen Moral gestellt wird. Es findet keinerlei Debatte darüber statt, dass und warum die Gesellschaft immer extremere Formen der Gewaltdarstellung hervorbringt. Natürlich ist der jetzt mit fünf Oscars bedachte Film "Gladiator" nichts anderes als eine zeitgemäße Inszenierung der römischen Blutspiele. Die Kinder aber, die zwischen Spiel und Ernst nicht mehr zu unterscheiden vermögen, werden gleichsam im Abspann der amerikanischen Öffentlichkeit vorgeführt - und anschließend lebenslänglich weggesperrt.

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