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Kultur: Giraffen küsst man nicht

Uraufführung am Deutschen Theater: Jürgen Gosch inszeniert Roland Schimmelpfennigs „Auf der Greifswalder Straße“

Endlich ist Schluss mit der kuscheligen Pracht aus Goldornamenten und rotem Samt im Deutschen Theater Berlin. Die Abbrucharbeiten sind in vollem Gang. Bauarbeiter, die kaum von der großen, immer wieder gern beschworenen Geschichte des Hauses zu beeindrucken sein dürften, haben schon die beiden Logen über der Bühne ausgeschlachtet. Damit die Theatergeschichte und der Bauschutt nicht so stauben, jagt ein Bauarbeiter einen Strahl Wasser in die rechte Seitenloge. Wo eben noch Schauspieler durch die schönsten Gefühlsverwirrungen taumelten, kracht jetzt eine Ladung Steine von der Baustelle, hoch über den Köpfen des Publikums, auf die Rampe. Rumms!

Die Bühne als Schuttabladestelle, das Theater als Abraumhalde und Zwischenlager, in dem sich alles anhäuft, wofür sich andernorts keine Verwendung mehr findet. Desto deutlicher Schutt und Bauarbeiter die Bühne übernehmen, desto weniger bleibt übrig von der Last der Theatergeschichte samt ihren Gold- und Bedeutungsornamenten. Nur seltsam, dass das unerschrockene Uraufführungspublikum diese Theaterverwüstung auf das freundlichste goutiert. Liegt es daran, dass kein Geringerer als Jürgen Gosch die Abrissarbeiten auf das liebevollste inszeniert hat. In der vergangenen Spielzeit ist dem Regisseur mit einer musikalisch leichten, böse-komischen Neuinterpretation des Ehe-Kriegsklassikers „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ hier eine gefeierte Inszenierung gelungen. Jetzt hat er die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Berlin- und Großstadtstück „Auf der Greifswalder Straße“ besorgt.

Schimmelpfennig versammelt in seinem Stück neben Bauarbeitern mehrere Dutzend Alltagsfiguren, U-Bahnfahrer, betrunkene Rocker, Supermarktkassiererinnen, rumänische Kleinkriminelle und verliebte Teenager. Lauter bekanntes Gelichter, gemischtes Gewühle in über sechzig kurzen Szenen: „Short Cuts“ aus der Berliner Gegenwart. Man muss sofort an Andreas Dresens Film „Sommer vorm Balkon“ denken. Aber weil wir an diesem Abend nicht im Kino und auch nicht auf der Greifswalder Straße, sondern in der Schumannstraße sind, nicht an einer zugigen U-Bahnstation am Prenzlauer Berg, sondern in einem der schönsten Theater Berlins, sind selbst die theaterdemolierenden Bauarbeiter natürlich Schauspieler. Und die Kioskbesitzer, Gemüsehändler, Gleisbauarbeiter, die die Bühne bevölkern, geben sich nur kurz Mühe, so zu tun, als stammten sie aus dem tristen Berliner Alltag und nicht aus einer poetischeren Gegenwelt.

Selbst der einsame Mann (Bernd Stempel), der nachts im Bademantel über die Straße beziehungsweise über die weitgehend leere, von einer flachen Treppe zerteilte Bühne (Johannes Schütz) irrt und seinen entlaufenen Hund sucht („Biene!“) ist unverkennbar ein trauriger Theaterkomiker. Er ist einer der wenigen, der die 24 Stunden, von denen das Stück erzählt, ohne größere Beschädigungen, Gefühlsumbrüche und Mutationen übersteht. Mögen sich andere Figuren selbst verstümmeln oder in einen Wolf verwandeln, einander erschießen oder, seltener Glücksfall, ineinander verlieben, er zieht unbeeindruckt seine Bahnen durch die Nacht („Bieneeee!“).

Der Obst- und Gemüsehändler Rudolf (Ingo Hülsmann) hat es schwerer. Ihm kommt kein Hund abhanden, sondern zuerst sein Vertrauen in die Wirklichkeit, dann sein Herz und am Ende sein Leben. Im Traum warnen ihn Frauen, die ihn einmal geliebt haben: Er hat nur noch jene 24 Stunden zu leben. Eine Giraffe wird ihn in den Abgrund reißen. Diese Giraffe ist ein junges Mädchen, eine Zufallsbekanntschaft, groß, herb und geheimnisvoll (Katharina Lorenz). Es geschieht, wovor Rudolfs Träume ihn gewarnt hatten: Er verliebt sich, und sein Gefühl ist so gewaltig und irreal, dass es ihn in den Abgrund stürzt. „Die Liebe sprengt die Welt“, stellt Rudolf fest, ein Satz, den man eher bei Kleist als bei einem Gemüsehändler vermuten würde. Es ist trotz allem noch eine der harmloseren Verwandlungen. Ein Mädchen wird von einem Hund gebissen und mutiert zum Wolf, ein Mann muss zwanghaft Lieder in fremden Sprachen singen, ein anderes Mädchen geht als Geist um und begreift nicht, dass es längst tot ist. Elegant und verspielt hebt Schimmelpfennig die Wirklichkeit aus den Angeln. Nur wirken diese Spiele seltsam ziellos und leer. So gern man seinen Figuren zuhört, so schön einzelne Momente dieses Patchworks sich entfalten – so behauptet und ausgedacht, aus dem Fundus der Romantik, des Märchens und des Kinos entliehen, wirkt die Gegenwelt, in die Schimmelpfennig seine Geschöpfe entschweben lässt.

Gosch gelingen komische Momente und kurze, wundersame Begegnungen. Nur leider hat man das Gefühl, dass er mühsam Schimmelpfennigs Szenen-Labyrinth bebildert und nachbuchstabiert, ohne die darin beobachteten Wirklichkeitspartikel zum Schweben zu bringen.

Wieder am 1. und 19. Februar

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