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Porträt mit Spiegebild von Evita Peron aus dem Jahr 1950.

© IMEC, Fonds MCC, Vertrieb bpk/Photo Gisèle Freund

Gisèle Freund: Hausbesuch mit Leica

Gisèle Freund wurde mit Porträts von James Joyce, Walter Benjamin und Simone de Beauvoir berühmt. Jetzt feiert eine Ausstellung der Berliner Akademie der Künste die Fotografin, die in Schöneberg geboren wurde.

Zu den bekanntesten Porträts von Walter Benjamin gehört das Farbfoto, das Gisèle Freund 1938 in Paris von ihm gemacht hat. Es zeigt den Philosophen als erschöpften Denker, den Kopf an eine Hand gelehnt. „Wenn man die Augen schließt und an Benjamin denkt, hat man dieses Bild vor sich“, sagt Jan Philipp Reemtsma, der mit seiner Stiftung die Herausgabe von Benjamins Werken fördert.

Freund hat noch viele weitere Fotos von Benjamin aufgenommen. Auf ihnen sitzt der Autor schreibend, lesend, exzerpierend in der Bibliothèque nationale, steht mit vom Wind zerzausten Haaren auf der Terrasse der Fotografin, blickt freundlich direkt in die Kamera. Freund, die im Jahr 2000 starb, hatte sich geweigert, alle ihre Benjamin-Bilder zu veröffentlichen, weil ihr nur „zwei oder drei davon“ gefielen. Jetzt sind erstmals alle 39 Aufnahmen an zwei Wänden der Berliner Akademie der Künste zu sehen – eine kleine Sensation.

Die Ausstellung, die 280 Schwarzweiß- und Farbfotos präsentiert, ist auch eine Heimkehr. Denn die Fotografin, Tochter einer wohlhabenden jüdischen Textilkaufmannsfamilie, war 1908 als Sophia Gisela Freund in Schöneberg im Bayerischen Viertel geboren worden. Freund hatte Benjamin schon 1932 kennengelernt, als sie in Frankfurt am Main Soziologie studierte. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten trafen sie sich in Paris wieder. In zwei Vitrinen liegen Briefe, in denen Freund schon bald von der förmlichen Floskel „Lieber Herr Doctor Benjamin“ zu „Lieber Freund“ wechselte, dazu einige Blätter aus seinem Fragment gebliebenen „Passagen“-Werk in Benjamins winziger Handschrift. Dort hatte er Zitate aus ihrer Dissertation über „Photographie und bürgerliche Gesellschaft“ eingearbeitet.

Alle Benjamin-Porträts von Gisèle Freund nun gemeinsam sehen zu können, ist deshalb so verblüffend, weil sie ein anderes, bislang unbekanntes Bild jenes Schriftstellers vermitteln, der sich ein Jahr nach den letzten Aufnahmen an der französisch-spanischen Grenze das Leben nehmen sollte. Benjamin wirkt auf diesen Fotos vitaler und jugendlicher, sogar fröhlicher, als man ihn zu kennen glaubte. Freund ist den Menschen, die sie fotografierte, sehr nahe gekommen, das macht den Reiz ihrer Bilder aus. Ihr Vorbild war Nadar, ein Pariser Fotopionier des 19. Jahrhunderts, der nicht nur viele Berühmtheiten seiner Zeit abgelichtet hatte, sondern auch alle seine Freunde. Mit seinem Tod, schrieb sie in ihrer Doktorarbeit, sei der Beruf des Porträtfotografen zum Aussterben verdammt.

Selbstporträt. Gisèle Freund, 1952.
Selbstporträt. Gisèle Freund, 1952.

© IMEC, Fonds MCC/bpk/Photo Gisèle Freund

Mit ihrem Werk hat Gisèle Freund dieses pessimistische Urteil selbst widerlegt. Ihre erste Leica bekam sie zum Abitur von den Eltern geschenkt. Um ihr Studium zu finanzieren, begann sie für Zeitungen zu arbeiten. Die Ausstellung zeigt ihre Reportage über den Pariser „Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur“ im Sommer 1935. Zu den Teilnehmern gehörten Henri Barbusse, Heinrich Mann, Vladimir Nabokov und Boris Pasternak; die Fotos aus überfüllten Räumen voller gestikulierender Autoren geben die aufgewühlte Atmosphäre am Vorabend des Zweiten Weltkriegs wieder.

Eine Bilder-Serie aus den Pariser Buchtempeln entstand 1937 wiederum im Auftrag des Direktors der Bibliothèque nationale. Während die Besucher der Großbibliothek ameisenhaft ihre Lesearbeit an dicht gedrängten Tischen verrichten, teilen die Nutzer einer Kinderbibliothek ihre Leseabenteuer lauthals miteinander.

„Ich wollte eigentlich immer eine Reporterin sein“, hat Freund gesagt. Doch berühmt wurde sie als Porträtistin. Für Aufsehen sorgte ein Bild, das sie 1935 auf der Terrasse ihrer Wohnung an der Pariser Rue Lakanal von André Malraux aufnahm. Der Romancier steht mit gelockerter Krawatte vor weiß-grauem Himmel, die Augenbrauen mürrisch zusammengeschoben, eine Kippe im Mundwinkel. Ein Inbild des engagierten Intellektuellen. Viele Türen öffneten sich der Fotografin, nachdem sie sich mit der Verlegerin und Buchhändlerin Adrienne Monnier angefreundet hatte, einer Zentralfigur der Pariser Literaturszene.

In der Berliner Zusammenschau fügen sich viele der Porträts zu Reportagen – ob es sich um Hausbesuche handelt oder um Langzeitbeobachtungen. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir hat Freund von 1939 bis 1968 fotografiert. Auf den zwei Dutzend Aufnahmen, die in der Ausstellung zu sehen sind, glaubt man dem Paar beim Altern förmlich zuschauen zu können. Und James Joyce wurde zwei Mal von Freund besucht, 1938 und 39. Der Autor des „Ulysses“ bezahlt ein Taxi, entspannt sich auf einem Gartenstuhl , unterhält sich mit seiner Familie. Ein Foto, das Joyce lesend in seiner Bibliothek zeigt, schaffte es auf das Cover des „Time“-Magazin.

Als die deutsche Wehrmacht in Frankreich einmarschierte, floh Gisèle Freund zunächst in den Süden des Landes, dann nach Argentinien. Dort hielt sie sich mit Vortragsreisen und Arbeiten für Zeitungen und Zeitschriften über Wasser. Ein Glanzstück der Ausstellung ist die Reportage über das Präsidentenpaar Juan und Evita Péron aus dem Jahr 1950. Er, aasig lächelnd in einer protzigen Uniform, wirkt wie eine Wachsfigur, sie lässt sich gleichzeitig frisieren und maniküren, während ein Bediensteter Briefe vorliest. Der Propagandaminister war entsetzt, als er die Bilder sah und verlangte die Herausgabe der Negative. Am nächsten Tag saß Freund im Flugzeug, mit den Negativen im Handgepäck.

Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, bis 10. August. Di–So 11–19 Uhr. Der Katalog (Nicolai Verlag) kostet in der Ausstellung 30 €, im Buchhandel 39,95 €.

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