zum Hauptinhalt

Evangelische Predigt: Die gecoachte Verkündigung

Eine protestantische Predigt klinge heute so, als spräche ein Tüv-Prüfer über den heiligen Gral, findet Botho Strauß. Aber was ist eine gute Predigt? Wie Rhetorikprofis sich in der Welt von Luthers Erben versuchen.

Die Luther-Eiche streckt ihre Äste wie Arme ins tiefe Oktoberblau. Und kein Blatt regt sich. Ein paar Amerikaner staunen die Eiche an wie das Wunder, das über den Glauben geht. Hier, vor dem Wittenberger Elstertor hat Luther 1520 die Bannandrohungsbulle des Papstes verbrannt, und da er schon einmal dabei war, gleich noch das ganze päpstliche Recht dazu. Schon am nächsten Tag soll der Baum gepflanzt worden sein.

Zeit der Reife. Zeit der Ernte. Nur manchmal fällt ein Blatt zu Boden, ganz ohne Windstoß, ganz ohne Rütteln. Gerade so beiläufig, so still hat Luther den Deutschen ihre Sprache gegeben, die deutsche Schriftsprache. An der Bibelübersetzung ist er zum Dichter geworden. Und was haben wir daraus gemacht?

Eine protestantische Predigt heute, das sei ungefähr so, als spräche ein Materialprüfer vom Tüv über den heiligen Gral, glaubt Botho Strauß. Andere reden von „Mittlerer Kanzelsprache“. Die Protestanten, die ihre Kirche so ganz auf das Wort gebaut haben – sind sie ihm fremd geworden? Oder sind zeitgenössische Intelligenzen ohnehin predigtresistent?

Vorm Rathaus hält der steinerne Luther einer Gruppe Palästinenser die aufgeschlagene Bibel entgegen, genau gegenüber aber, in dem Haus, das einst Luthers Freund Lucas Cranach gehörte, schreien zehn Jugendliche die Wände an: „Was ist gut? Was ist böse?“, „Kain steht vor Gott!“, „Ich habe meine Eltern noch nie angelogen!“ Alles durcheinander. Und dabei lassen sie sich schwer gegen die alten Mauern fallen. Der „Was ist gut? Was ist böse?“-Frager ist am lautesten. Sieht so die Erneuerung der protestantischen Predigt aus?

Aufmunterung, Erwärmung, Selbstermutigung. Es sind die jeweils ersten Sätze ihrer Predigt. Und es ist noch früh. Am Abend aber werden alle zehn, zwischen 17 und 20 Jahre alt, generalprobeweise in der Wittenberger Stadtkirche predigen, in Luthers Pfarrkirche also. Sie haben es in die Endrunde des Wettbewerbs „Jugend predigt“ geschafft.

Was in der katholischen Kirche undenkbar wäre, ist bei den Protestanten Programm: Jeder kann das Wort Gottes hören, also darf auch jeder predigen. Wenn er es kann! Noch sind Timm, Thekla und die anderen ganz ruhig. Abend ist später, auch sind ihre Predigten noch nicht fertig. Oder anders: Sie waren schon einmal fertig, als sie herkamen. Aber dann zogen sich lange Striche durch ihre Manuskripte, ja schlimmer noch, sie mussten sie zerschneiden und passagenweise auf grünes, gelbes und blaues Papier kleben und die Schnipsel in eine Tüte stecken. Timm hat es am schwersten. Seine Tüte ist weg.

Die Verantwortlichen für dieses Predigtmassaker sitzen ganz oben unterm Dach des Rathauses, im „Evangelischen Predigtzentrum“. Es ist erst eineinhalb Jahre alt, und seine Aufgabe ist das „Predigt-Coaching“. Welcher entlaufene Manager konnte auf dieses Wort zeitgenössischer Verkaufssprache verfallen?

Luther war ein Occupy-Mann der ersten Stunde. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Im Predigtzentrum stehen lauter kleine Lutherstatuen, eine knallrote aber auch grüne und blaue, übrig geblieben von einer großen, in Wittenberg tief beargwöhnten Kunstaktion. Der Rhetorikreferent Dietrich Sagert erklärt, dass das Institut für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst der EKD, der Evangelischen Kirche Deutschlands, zu solchen Vokabeln neige. Und bestätigt mit kopfnickendem Bedauern deren Korrektheit.

Um ein Haar hätte das Predigtzentrum Kompetenzzentrum heißen müssen. Weil es darum geht, die Pfarrer in ihrer Kernkompetenz, dem Predigen, zu stärken. Erneutes Nicken. So wäre also die allgegenwärtige Verkäufersprache auch bei Luthers unmittelbaren Erben angekommen, und es geht darum, den Glauben und Gott richtig zu verkaufen?

Dabei wäre Luther nie Luther geworden ohne die Verkäufer Gottes. Als Occupy-Mann der ersten Stunde beendete er eine zunehmend inflationäre Form des mittelalterlichen Derivategeschäfts, den Ablasshandel. Reformation ist nur ein anderes Wort dafür.

Sankt Peter wurde nicht zuletzt mit der Angst der Gläubigen vorm Fegefeuer finanziert. Und da man nicht nur sich selbst, sondern auch seine Verwandten und sogar die Toten mit Geld vom Fegefeuer freikaufen konnte, wuchs und wucherte die Ablassblase wie heute die Immobilienblase und Hightechblase. Bis der kleine Mönch nach Wittenberg kam und sie platzen ließ.

Dietrich Sagert, Sohn eines mecklenburgischen Pfarrhauses, hat ein sehr genaues Gefühl dafür, wie tödlich die allgegenwärtige Verkaufsrhetorik wirken kann. Er hat das gerade analysiert, auch die Sprache ist eine große Maklerin.

Ein Hauptkennzeichen der Gegenwart ist die rasante Entkoppelung von Geld und realem Wert. Vielleicht heißt das lateinische Wort für Glaube nicht ganz zufällig Credit. Und so kommt, sagt Sagert, eine merkwürdige Nähe des Verwertungssprechens zu religiösen Redeformen zustande, in denen es um Vertrauen, Versprechen und Zukunft geht – um lauter Kreditangelegenheiten also.

Vielleicht nicht zuletzt deshalb nennen Sagert und seine Kollegen das, was sie tun, für sich längst anders, nicht Coaching, sondern Cura homiletica. „Es ist der Gedanke der Pflege, der Sorge und Zuwendung, wie er sich im lateinischen Wort cura findet.“ Es gehe zwar bewusst um Handwerkliches – gerade das komme an den Universitäten noch immer zu kurz –, aber dieses Handwerkliche soll kein mittleres Allgemeines hervorbringen, sondern im Gegenteil das jeweils unverwechselbare Ich des Predigers. Es geht um nichts weniger als die Anwesenheit des Predigers in der Predigt. Denn was sei eine gute Predigt? „Die Mitteilung einer Gegenwart, die sich verschenkt.“

Verschenkt? Verloren hat Timm seine Tüte mit den Predigteinzelteilen, er nahm es als Zeichen und hat noch einmal alles neu geschrieben. Musste er ohnehin. Auch er hat wie fast alle das Jahres-Motto der Evangelischen Kirche „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ (Römer 12,21) zum Thema gewählt, aber seine Predigt war durch und durch ironisch.

Ironie – Distanz also – in der Kirche, unmöglich. So sind nur noch seine Anfangssätze übrig: „Ich habe meine Eltern noch nie belogen“, vor jedem Pin-up-Girl senke er die Augen und immer so weiter. Da man gewohnt ist, in der Kirche Dinge für wahr zu halten, die man sonst sofort bezweifelt, muss Timm nun ausdrücklich hinzufügen, er hoffe nicht, dass man ihm das geglaubt habe. Die Pointe ist nur: Er hat es sich lange selbst geglaubt. Die Armen, Schwachen und Gemobbten in seiner Klasse konnten auf seinen Beistand rechnen. Keine Oma kam allein über die Straße, solange er in der Nähe war. Natürlich, Timm hätte wissen können, wohin einen das bringt, wie Jesus zu leben. Jesus brachte es ans Kreuz. Der ironische Ton erlaubte ihm, an seinem Ideal festzuhalten und es gleichzeitig zu relativieren, ohne sich selbst preisgeben zu müssen. Das ist nun anders.

Je weiter weg von der klassischen Predigtpose, desto besser, findet Dietrich Sagert. Lesen Sie weiter auf Seite 3.

Predigt-Trainerin Jasmin El-Manhy liest Timm seinen eigenen, neuen Text vor, damit er ihn wie einen fremden hören kann. Er sitzt da, im blauen Sweatshirt, blonder Pferdeschwanz, ein kleines Unbehagen im Blick. Der Predigende, das merkt er selbst, ist jetzt auf beunruhigende Weise anwesend in seiner Predigt. Auch wenn er von sich in der dritten Person wie von einem Freund spricht. Timms Befund über den Zustand des Menschengeschlechts 2000 Jahre nach Christus ist illusionslos: Wir seien „Arschlöcher geblieben“. Luther hätte wohl das Wort „Sünder“ vorgezogen, aber Timm auch nicht kritisiert. Der Reformator nannte solche Direktheit „deutsch reden“. Ein Mentor betritt papiertütenschwenkend den Raum. Timms Predigtschnipsel, die „Moves“, sind wieder da! Auf dem Klo gefunden.

Die Einzelteile, die von einer zerlegten Predigt übrig bleiben, heißen am Predigtzentrum „Moves“. Es sind die Sinneinheiten eines geschleiften Textes. Man kann sie auch anders zusammensetzen, und schon ist es ein neuer Text. Vor allem aber kann man überzählige „Moves“ aufheben fürs nächste Mal.

Mit gestandenen Pfarrern wird an der Predigtwerkstatt genauso gearbeitet wie mit Timm, Thekla, Joel, Günter und den anderen. Gleich zwei Kirchenobere, eine Bischöfin und ein Superintendent, haben sich bereits für den handwerklichen Blick auf ihre Predigten bedankt – sie denken nur noch in „Moves“ –, und ein Kirchenpräsident lobte ausdrücklich den „Performancecheck“.

Das Gegenteil eines „Performancechecks“ ist wohl Luthers „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Es ist zugleich die Begründung der modernen Gewissensfreiheit. Als Auskunft über die Art und Weise des Vortrags haben Dietrich Sagert das „Hier stehe ich …“ um ein experimentelles „… und kann immer noch anders“ ergänzt.

Nachmittags, 16 Uhr. Noch vier Stunden bis zum Stadtkirchenauftritt. Thekla wird beinahe schwindlig vor lauter Anderskönnen. Sie hat in ihrer Predigt Lars von Triers „Dogville“ nacherzählt, den Film, den sich der Attentäter von Norwegen zum Vorbild nahm, diese Geschichte über die Unmöglichkeit, gut zu sein und seine Mitmenschen zu verschonen.

– Nein, erzähl das nicht, sei Grace! Sprich von ihr aus!

Das ist dann fast schon Theater, aber warum nicht? Je weiter weg von der klassischen Predigtpose, desto besser, findet Sagert. Thekla schafft auch das, sie ist anwesender so, aber die Fallhöhe wächst, und jeder Übergang wird zum Risiko.

Nur Günter aus Limbach-Oberfrohna lächelt noch immer vor Selbstvertrauen. Er hatte sich schon am Morgen am lautesten gegen die Wand fallen lassen. Er setzt sich auf einen Tisch und beginnt, die „Zeit“ zu lesen. Lauter schlechte Nachrichten! Er wirft die Blätter zu Boden, um auf der letzten Seite endlich auf die gute Nachricht zu stoßen. Die frohe Botschaft also: Das Böse ist stark, aber nicht allmächtig. Günter aus Limbach-Oberfrohna erinnert uns daran, was das Evangelium auch ist: ein journalistischer Spezialfall. Nicht irgendeine Nachricht, sondern die gute. Und immer dieselbe. Das ist zwar einerseits beruhigend, irritiert aber unser Bedürfnis nach Abwechslung. Zudem ist die Pointe immer gleich: Gott.

Nein, eine einfache Kommunikationsform ist die Predigt bestimmt nicht.

Und die Bibel ist zu wichtig, um sie allein den Gläubigen zu überlassen. Die Sprach- und Lebensempfindlichen haben das immer gewusst.

Am liebsten hat Luther die Bibel mit einem Baum verglichen, nicht gerade mit einer Eiche, eher mit einem Apfelbaum. Er habe ihn zwar oft geschüttelt, aber meist habe er doch einfach ganz still daruntergesessen und die Früchte fielen ihm zu: „Ich hab nichts getan, das Wort hat es alles bewirkt.“

Und dann schlagen die dunklen Glocken der Wittenberger Stadtkirche acht Uhr. Zehn junge Menschen beginnen gleich die erste Predigt ihres Lebens, genau an jenem Ort, wo Martin Luther am 25. Dezember 1521 den ersten Gottesdienst in deutscher Sprache hielt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false