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Pfarrer Cornelius vor seiner Gemeindekirche St. Martin in Berlin-Mahlsdorf.

© Doris Spiekermann-Klaas

Jahresrückblick: "Es waren sehr harte Monate"

Am 28. Januar 2010 wurde bekannt, dass am Berliner Canisius-Kolleg Schüler missbraucht wurden. Pfarrer Oliver Cornelius erzählt, wie es ist, unter Generalverdacht zu stehen.

Was dachten Sie, als im Januar Fälle von sexuellem Missbrauch am Canisius-Kolleg bekannt geworden sind?

Von solchen Fällen hatte man zuvor ja schon in den USA und in Irland gehört, aber das war doch weit weg. Als die Fälle am Canisius-Kolleg bekannt wurden, war ich geschockt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass katholische Priester so etwas machen. Ich hatte immer nur mit guten, ehrlichen Priestern zu tun.

Sie sind 37 Jahre alt und seit drei Jahren Pfarrer in St. Martin in Berlin-Kaulsdorf. Auch in einer Gemeinde in Ihrer Nachbarschaft wurden Vorwürfe gegen einen Priester erhoben, wie sich einen Tag nach der Veröffentlichung der Canisius-Fälle herausstellte.

Dazu kann ich nichts sagen. Die Ermittlungen sind nicht abgeschlossen. Man darf nicht vorverurteilen.

Wie hat Ihre Gemeinde auf die Nachrichten reagiert?

Viele waren natürlich auch schockiert. In den verschiedenen Gruppen in der Gemeinde wurde das Thema dann diskutiert. Etliche kamen zu mir, um sich über ihre Verunsicherung, ihr Leiden an unserer Kirche mitzuteilen. Manche sagten, dass sie sich schwer tun, ihr Katholischsein öffentlich zu bezeugen. Hier im Ostteil der Stadt sind die Katholiken sowieso noch mehr in der Minderheit und müssen sich besonders rechtfertigen.

Haben Sie die Gemeindemitglieder aufgefordert, sich bei Ihnen zu melden, wenn sie selbst Opfer waren oder sind?

Ich muss sie nicht extra auffordern. Sie wissen auch so, dass sie jederzeit zu mir kommen können.

Haben Sie das Thema in Predigten aufgegriffen?

Einige Zeit später. Ich musste mich auch erst einmal sammeln. Ich habe in der Predigt versucht klarzumachen, dass es die perfekte Kirche nie gab und auch jetzt noch nicht gibt. Die Kirche – und das sind wir alle, die Bischöfe, die Priester, die Gläubigen – sind alle Menschen mit ihren Stärken und Schwächen. Kennen Sie die Geschichte von dem Mann, der die perfekte Kirche sucht? Irgendwann sagt ihm einer: Die perfekte Kirche gibt es nicht. Und wenn es sie gäbe, spätestens wenn du eintrittst, ist sie es nicht mehr.

Wie ist es Ihnen ergangen, als das Thema immer größer wurde, immer mehr Fälle aufgetaucht sind?

Einerseits finde ich es gut, dass das jetzt alles rauskommt und aufgearbeitet wird. Andererseits war es furchtbar, dass plötzlich mein ganzer Berufsstand verdächtigt wurde. Es ging gleich wieder um den Zölibat. In der öffentlichen Debatte konnte man den Eindruck haben: Jeder katholische Priester ist ein potenzieller Kinderschänder. Dagegen habe ich mich gewehrt. Natürlich gibt es auch unter den Priestern schwarze Schafe. Aber sexueller Missbrauch ist kein katholisches Phänomen, sondern ein gesellschaftliches! Die meisten Fälle passieren in den Familien.

Besteht nicht ein Zusammenhang zwischen der weltfremden Sexualmoral der katholischen Kirche, der Hilflosigkeit mancher Priester, mit ihrer Sexualität umzugehen, und Missbrauch?

Das sehe ich nicht. Kein Priester macht sich die Entscheidung, so zu leben, leicht. Außerdem ist die Kirche Gott und nicht dem Zeitgeist verpflichtet. Wohl aber muss sie ihre Werte im Umgang mit Sexualität besser vermitteln. Das fände ich viel wichtiger, um alte Vorurteile auszuräumen, die gerne von nicht wenigen weitergetragen werden. Die Kirche muss ein Korrektiv der Gesellschaft bleiben. Wir haben heute Abend wieder einen Jugendabend, wo es um Sexualität, Ehe und Zölibat geht. Da fragen mich die Jugendlichen auch, wie ich das mache mit dem Zölibat, da wird nichts tabuisiert.

Verstehen die Jugendlichen die kirchlichen Positionen?

Natürlich sehen sie einiges anders. Aber sie verstehen dann zumindest, warum die Kirche bestimmte Positionen vertritt, und setzen sich damit auseinander.

Wie haben die Jugendlichen reagiert, als sie von den Missbrauchsfällen erfahren haben?

Ich hatte den Eindruck, dass sie das nicht so sehr beschäftigt hat. Das gehört für sie in eine andere Zeit.

Hat sich Ihr Verhältnis zu Kindern verändert? Trauen Sie sich noch, ein Kind in den Arm zu nehmen?

Das musste ich schon neu lernen. Auf einmal fühlte ich mich total beobachtet. Wir Priester hier im Bistum haben beschlossen, jetzt nicht krampfhaft Distanz zu halten, sondern einen normalen Umgang beizubehalten. Es ist wie in allen pädagogischen Berufen eine Frage von Nähe und Distanz. Ich habe die Jugendlichen aufgefordert zu sagen, wenn sie sich bedrängt fühlen, von wem auch immer.

Haben Sie überlegt, Jugendfreizeiten abzusagen?

Das stand nicht zur Debatte. Und ich finde es enorm wichtig, dass der Pfarrer mitfährt. Kinder sollen mich nicht nur vorne am Altar sehen, sondern mich auch als Menschen kennenlernen, der mit ihnen Fußball spielt.

Sind Mitglieder aus Ihrer Gemeinde wegen der Missbrauchsdebatte aus der Kirche ausgetreten?

Niemand von den Aktiven. Wenn jemand austritt, wird mir das vom Amt gemeldet. Meistens kenne ich die Leute gar nicht, weil sie sich vorher bereits von der Kirche distanziert hatten. Ich schreibe jedem, der ausgetreten ist, einen Brief und biete ein Gespräch an, für das es aber dann meistens zu spät ist. Ich würde mit ihnen viel lieber vorher reden, aber da erfahre ich nichts von ihren Absichten.

Wie geht es Ihnen jetzt, am Ende dieses Jahres?

Es waren schon sehr harte Monate, die ich, wie viele andere auch, durchlitten habe. Als Priester liebt man ja diese Kirche. Es sind viele Fragen aufgebrochen, die man sich zuletzt vor dem Eintritt ins Priesterseminar gestellt hatte. Aber ich habe für mich einen Weg gefunden, im Gebet, im Gespräch mit Gemeindemitgliedern und mit anderen Priestern. Wir als Priester wissen, wo wir mit Sorgen und auch mit Schuld hinkönnen: vor Gott. Ich habe immer schon gebetet: Lieber Gott, hilf deiner Kirche, deinen Bischöfen, deinen Priestern. Ich tue das jetzt mit einer neuen Tiefe, einer neuen Ernsthaftigkeit. Was soll ich auch sonst tun? Ich kann ja erst mal nicht mehr tun.

Wie wichtig war der Austausch mit Kollegen?

Sehr wichtig. Man muss sich auch mal ausheulen können. Pfarrer dürfen nicht vereinsamen, sonst bekommen sie ein echtes Problem.

Ist die Gemeinde zusammengewachsen durch die Krise?

Sie wächst immer weiter, in Krisen, wie auch sonst.

Wo steht die Kirche jetzt?

Der erste Schritt zur Umkehr war die Einsicht dieser Schuld einiger weniger. Das ist nicht leicht, auch persönlich nicht. Jetzt sind wir vielleicht in der Phase, dass wir Buße tun. Ein neuer Aufbruch steht noch an.

Wollen Sie das Thema Missbrauch in der Silvesterpredigt ansprechen?

Das weiß ich noch nicht. Ich werde es indirekt in der Weihnachtspredigt thematisieren. Ich will darauf hinweisen, dass wir das Kind in der Krippe nur sehen, wenn wir uns zu ihm hinabbeugen und demütig sind. Ich werde die Krippe in der Kirche dieses Jahr auch nicht auf eine Erhöhung stellen wie sonst, sondern auf den Boden. Damit man sich bücken muss.

Das Interview führte Claudia Keller.

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