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Mormonen in Deutschland: Die Logik des Himmels

Mitt Romney, der republikanische Herausforderer von US-Präsident Barack Obama, ist Mormone. Wie auch Zachary Liechty in Berlin und Peter Schönherr in Freiberg. Das bedeutet: kein Alkohol, kein Tabak – und keine Fragen mehr.

Am Anfang ist das Wort, und es heißt Hallo. „Hallo, nur mal kurz“, sagt Elder Liechty, „wir wollen heute mit Menschen über das Gebet sprechen.“ Elder Liechty sagt auch: „Hallo, nur mal kurz, wir wollen heute mit Menschen über Glück reden.“ Oder „über Gott“. Hallo ist der Anfang, und am Ende, im für Liechty günstigsten Fall, steht der Glaube. Elder Liechty ist ein Missionar. Ein Missionar einer Kirche ohne Kreuz.

„Hallo, nur mal kurz”, er sagt es zu einer jungen Frau und zu einem alten Mann, er spricht Anzugträger an und Obdachlose, Deutsche, Japaner und Amerikaner, jeden, der ihm entgegenkommt an diesem Freitagmittag in Berlin.

Klingelhöferstraße, Tiergartenrand, CDU-Parteizentrale, Stiftungs- und Botschaftshäuser, Liechty geht mit strammem Schritt. Er möchte möglichst viele Menschen ansprechen – „ihnen die Möglichkeit geben, Jesus Christus kennenzulernen“, sagt er. Viele Angesprochene winken ab, die meisten freundlich, manche unwirsch. Liechty wurde auch mal angespuckt. Jedem schickt er ein mildes Lächeln hinterher. Eine Frau sagt ihm, dass sie Gebete gut findet und manchmal in die Kirche geht, „zu Konzerten und so“. Liechty sagt, sie solle doch mal in seine Kirche kommen und drückt ihr eine Visitenkarte in die Hand. Bei einer anderen kommt er sogar ein Stück weiter, sie ist interessiert an Gott, sagt sie, und nicht abgeneigt, mehr zu erfahren. Liechty zieht aus seinem Rucksack ein Buch und schenkt es ihr. Die Frau kann nicht glauben, dass das Buch nichts kostet und steckt es zögernd ein. Sie muss jetzt schnell weiter, sie kommt aus Stuttgart, so wird es leider nichts mit einer Verabredung zum ausführlichen Gespräch.

Denn das ist das Ziel: mit den Menschen Termine im Gemeindezentrum verabreden. Wenn man den ganzen Tag unterwegs ist, kommen vielleicht drei Verabredungen zustande, sagt Elder Liechty. Er muss Erfolgsberichte schreiben für den Missionspräsidenten, der die Missionare anleitet.

Das Buch aus dem Rucksack ist das „Buch Mormon“. Elder Liechty ist Mormone. Mormon, Mormonen, fremd klingende Worte. In jüngster Zeit etwas populärer geworden durch den Präsidentschaftskandidatenwahlkampf der Republikanischen Partei in den USA. Mitt Romney, der aussichtsreichste Bewerber, ist Mormone. In der Berichterstattung wird regelmäßig darauf hingewiesen. Ebenso regelmäßig bleibt es dann auch dabei, Romney, Mormone, als sei dies eine hinreichende Erklärung für irgendetwas an diesem Mann.

Elder Liechty kommt aus Amerika. Er ist einer von etwa sechs Millionen Mormonen in den USA, und einer von etwa zwei Millionen – unter ihnen Romney – in seinem Heimatbundesstaat Utah. In Deutschland leben 38 000. Und so wie Romney einst als Missionar seiner Kirche in Frankreich unterwegs war, ist es Liechty, 21 Jahre alt, schmal und nicht gerade groß, nun auf den Straßen Berlins.

Manchmal spricht er 300, 400 Menschen an einem Tag an. Er trifft sie auf der Straße oder klingelt an Türen. Am Anfang musste er sich überwinden, sagt er, er sei schüchtern. Jetzt fällt es ihm leichter. Auch Liechtys Eltern gehören zur „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, wie sich die Mormonen offiziell nennen. Für einen Jungen aus einer Mormonenfamilie ist es selbstverständlich, mit 20 Jahren auf Mission ins Ausland zu gehen. Ein Gremium in der Mormonenzentrale in Salt Lake City in Utah entscheidet, wohin man geht.

"Ich bin glücklich, weil ich den Heiligen Geist in mir spüre"

„Eigentlich entscheidet nicht das Gremium“, sagt Liechty, „der Heilige Geist entscheidet und gibt es ihnen ein.“ Liechty kam im August 2010 nach Deutschland, zuerst nach Bremen, dann nach Eilenburg bei Leipzig und nach Neubrandenburg, seit einem Dreivierteljahr ist er in Berlin. „Elder“ ist nicht sein Vorname, er heißt Zachary nach dem Propheten Zacharias. „Elder“ bedeutet „Ältester“ und ist seine Funktion als Missionar. Der schwarze Anzug, das weiße Hemd und die Krawatte sind seine Arbeitskleidung. „Wenn wir uns anständig kleiden, laden wir den Geist des Herrn ein”, steht in der Mitgliederzeitschrift. „Besonders zwanglose Kleidung führt fast immer zu besonders zwanglosem Benehmen.” Zwanglosigkeit ist nichts Gutes für Mormonen.

Deshalb versucht die Kirche, möglichst viel für ihre Mitglieder zu regeln. Zum Beispiel, dass junge Mormonenmänner junge Mormonenfrauen kennenlernen, mittwochabends beim gemeinsamen Bibellesen und Kochen in der Gemeinde. Sexualität vor der Ehe ist tabu, vergleichsweise frühes Heiraten für die Betroffenen folgerichtig geboten, danach sollten die Männer das Geld verdienen und die Frauen sich um den Nachwuchs kümmern, Kinderreichtum ist Standard. Montagabends kommen die Familien in der Gemeinde zusammen, das schafft Verbundenheit – und ermöglicht soziale Kontrolle.

In Elder Liechtys Leben ist fast jede Minute verplant. 6 Uhr 30 aufstehen, 30 Minuten joggen, frühstücken, Bibelstudium, Deutsch lernen, von elf bis 21 Uhr Mission. Eine Stunde Mittagspause. Wenn Liechty gerade keinen Menschen anspricht, summt er Kirchenlieder vor sich hin. Anderes als Kirchenmusik darf er auch nicht hören. Nicht Pop, nicht Jazz. Er darf keinen Alkohol trinken, auch keinen Kaffee oder Tee. Auch Fernsehen würde nur ablenken von seiner Aufgabe.

Ob ihm nichts fehlt? Liechty zuckt mit den Schultern. „Ich bin glücklich, weil ich den Heiligen Geist in mir spüre“, sagt er und lächelt sein zartes Lächeln. Das war nicht immer so, sagt er.

Als er anfing zu studieren und ohne seine Familie und seine Geschwister war, vernachlässigte er den Glauben, ging nicht mehr zum Gottesdienst, las nicht mehr regelmäßig in der Bibel. Er habe sich unwohl gefühlt damals und nicht gewusst, warum. Da er an der Mormonenuniversität studierte, musste er eine Prüfung über das Buch Mormon ablegen; weil er so viel versäumt hatte, las er die vielen hundert Seiten in drei Wochen und so konzentriert wie nie zuvor. Er las auch: „Die Freude Ammons war so groß, dass er ganz davon erfüllt war; er war in der Freude an seinen Gott verschlungen, so sehr, dass sich seine Kraft erschöpfte.“ Diese Freude wollte auch er spüren. Da habe er erkannt, dass man demütig sein müsse und sich ganz und gar Gott öffnen, sagt Liechty. Und nach einer Weile war er da, der Heilige Geist. Es war wie ein Brennen.

Ohne den Heiligen Geist hätte er auch nie so schnell Deutsch gelernt, sagt Liechty. Er kennt alle Stellen aus der Bibel oder aus dem Buch Mormon, wo von der Macht des Geistes die Rede ist. Und je mehr er darin liest, umso mehr Entsprechungen für seine Gefühle findet er und umso mehr Beweise für das übersinnliche Wirken. „Die Stimme des Heiligen Geistes ist leise“, sagt er. Aber wer sich öffnet und aufrichtig sucht, hört sie. Überall.

Glaube an eine Existenz, die sich nach dem Tod in die Unendlichkeit weitet

Wohl jeder Mormone kann so eine Bekehrungsgeschichte erzählen. In Atheistenohren wolkig klingende Schilderungen finden sich genauso darunter wie handfest untermauerte Herleitungen. So wie bei Peter Schönherr. Der sitzt jetzt im Untergeschoss eines schneeweißen, von mit Sachverstand gepflegten Rasenflächen umgebenen Gebäudes am Rande der sächsischen Stadt Freiberg und versucht, sich zu erinnern. Das Gebäude ist ein Heiligtum, ein Tempel, einer von zweien in Deutschland, und Schönherr ist Tempeloberster und Bischof hier.

Es ist jetzt 30 Jahre her, Schönherr war Anfang 20, evangelischer Christ und Tiefbauingenieursstudent in Leipzig. In seinem Ingenieursgehirn hockte eine Ungereimtheit. Der Glaube, in dem er lebte, schildert das Leben eines Menschen als eine mit der Geburt beginnende Existenz, die sich schließlich – nach dem Tod – in die Unendlichkeit weitet. „Unendlich nur in einer Richtung“, sagt Schönherr, „das hat mich verwundert.“ Es beschäftigte ihn sehr. Und vielleicht sah man es ihm an, vielleicht war es Zufall oder Vorsehung, jedenfalls begegnete ihm eine Kommilitonin, die beiden kamen ins Gespräch. „Sie sagte“, sagt Schönherr, „die Lehre unserer Kirche ist so und so, bei uns gibt es die Unendlichkeit auch vor der Geburt.“ Wir waren immer schon da.

Er dachte ein paar Monate lang nach, besuchte mit der Kommilitonin Gesprächskreise der mormonischen Gemeinde in Leipzig, und es fügte sich vieles. Kein Alkohol, kein Tabak, kein Kaffee – Schönherr sagt: „Eine gesunde Lebensweise hatte ich eh vor.“ Die in seinen Augen fragwürdige Legitimation von Pfarrern im Christentum, Kinder zu taufen oder Paare zu verheiraten: „Wer erteilt ihnen den Auftrag, wer gibt die Vollmacht? Die Apostel sind lange tot, da ist doch eine Kontinuität unterbrochen.“

Die Kontinuität in Schönherrs Sinne ist seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts wieder hergestellt, als dem Religionsstifter Joseph Smith Gott und Jesus Christus begegnet sein sollen, persönlich, an der amerikanischen Ostküste, und er den Auftrag erhalten zu haben glaubt, eine Kirche zu gründen. Auch auf Schönherrs logische Verständnisschwierigkeiten mit der christlichen Dreieinigkeit aus Vater, Sohn und Heiligem Geist hatte der Leipziger Gesprächskreis eine Antwort.

Es fügte sich noch etwas für Schönherr. Nach ein paar Monaten hatte er den „Kopf frei“, sagt er, weil es für ihn in religiösen Dingen nun eine Lösung gab, und da dachte er, „Mensch, diese Kommilitonin“. Sie ist seitdem seine Frau. Schönherr macht einen zufriedenen Eindruck. „Beim Glauben angekommen sein“, sagt er, „es beruhigt unheimlich.“ Das Fragende, Sorgenvolle, Zweifelnde wegen der Erdanwesenheit und dem Danach, das viele haben, Zukunftsängste, das habe er nicht. Haus hat er, Auto auch, aber alles nicht so wichtig. Keine Angst vorm Tod, keine vor Krankheiten, und wenn man ihn richtig versteht, dann liegt das offenbar nicht nur daran, dass er von der Existenz einer himmlischen Zukunft überzeugt ist, sondern dass er auf Erden etliches dafür tun sollte. Angstlosigkeit scheint auch eine Frage der Kapazitäten zu sein, des Pensums. Wer, so gut es eben geht, gottgefällig lebt, nächstenlieb, familienbezogen, verantwortungsbewusst, der hat wenig Zeit für anderes, auch für Sorgen. Vielleicht auch weniger Anlass.

Das Mormonenparadies ist eine Leistungsgesellschaft

Andererseits: Warum sollte man sich anstrengen mit dem Glauben, wenn Schönherrs Glaubenslehre eine anstrengungslose Belohnung für alle vorsieht, für alle Menschen, die je gelebt haben und je leben werden? Sie werden ohnehin auferstehen. Christus wird noch einmal auf die Erde zurückkommen, dann sei es so weit. „Wir verehren nicht den Gekreuzigten, sondern den Wiederauferstandenen“, sagt Schönherr über seine Kirche ohne Kult ums Kreuz.

Alle? Wird das nicht sehr voll? Schönherr scheint in diesem Punkt nicht dogmatisch zu sein. „Denken wir mal nicht über Diktatoren nach“, sagt er.

Tatsächlich ist das Mormonenparadies eine Leistungsgesellschaft. Je nachdem, wie man sich auf der Erde bewährt, erlangt die Seele dort verschiedene „Herrlichkeiten“. So hatte es Elder Liechty in Berlin erklärt und ein Papier aus der Tasche gezogen, auf dem er aufgemalt hatte, wie das ist mit der Auferstehung. Vom auferstandenen Menschen zeigte ein Pfeil zu den Sternen, ein anderer zum Mond und ein dritter zur Sonne. Nur wer von Mormonenhand getauft ist, kann auf einen Platz in der Sonne hoffen. Sie ist der Wohnort Gottes und Jesu Christi.

Man kann den beiden dort sehr nahe kommen, sogar selber gottgleich werden. Auch das wiederum hängt vom Verhalten der Menschen auf der Erde ab. Und es führe hier zu Konkurrenz, sagen Kritiker, auch innerhalb der Familien, unterlaufe damit das gebotene Streben nach Harmonie. Wie gut ist der andere? Wie kann ich besser werden? Das seien ständige Fragen, die sich die Gläubigen stellten.

„Erdenzeit ist Prüfungszeit“, sagt auch Schönherr. Aber es gebe keinen Wettbewerb, keinen, der vergleicht, und keine Messlatte. Kompetenzüberschreitung wäre das, denn „Jesus Christus wird uns mal gerecht richten, nicht wir“.

Damit die Familie im Jenseits zusammenbleiben kann, taufen Mormonen auch ihre längst verstorbenen nichtmormonischen Vorfahren, stellvertretend für die Toten werden heutige Mitglieder der Kirche getauft. Manchmal übertreibt es einer, wie neulich in den USA, wo durch Stellvertreter auch Barack Obamas Mutter, Anne Frank und die Eltern von Simon Wiesenthal getauft worden sein sollen. „Unerlaubte Einzelfälle“, kommentierte die Kirche.

Der Freiberger Bischof Schönherr scheint es ohnehin mit den Lebenden zu halten. Sein Amt ist ein Ehrenamt, die Zeit, in der er es ausübt, befristet. Was er machen wolle, wenn er in Rente geht? „Mission“, sagt er, „missionieren“.

200 Kilometer weiter nördlich, in Berlin, rast Elder Liechty durch die Straßen. „Hallo“, sagt er.

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