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Staat und Religion: Was ist Laizismus?

Der Islam wird selbstbewusster und sichtbarer. Er konfrontiert Europas Verfassungsstaaten mit neuen Konflikten. Die Franzosen haben einen speziellen Weg, mit Religionen umzugehen.

WARUM IST LAIZISMUS AKTUELL?

Der Islam gehört zu Deutschland und das Christentum zur Türkei, sagt Bundespräsident Christian Wulff. Stimmt es wirklich? Das deutsche Religionsverfassungsrecht begünstigt de facto bisher vor allem die christlichen Kirchen, während die Türkei Religionen staatlich kontrolliert und einschränkt. Religiöse Minderheiten wie das Christentum haben es dort besonders schwer. Zugleich zieht im laizistischen Musterstaat Frankreich Präsident Nicolas Sarkozy den Volkszorn auf sich. Es geht vordergründig um die Rente, doch Sarkozy hat sich auch sehr unbeliebt gemacht, als er vorschlug, den strikten Laizismus abzuschwächen. In Deutschland stößt FDP-Generalsekretär Christian Lindner die Diskussion in eine andere Richtung an: „Das Christentum ist nicht die deutsche Staatsreligion, sondern ein persönliches Bekenntnis der Bürger“, meint er, wichtige Verfassungsprinzipien seien gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft worden. Und in der SPD gründete sich jüngst ein Arbeitskreis „Laizisten in der SPD“, bei den Grünen gibt es ähnliche Überlegungen.

WAS BEDEUTET LAIZISMUS?

Man versteht heute darunter einen Verfassungsgrundsatz, der Staat und Religion strikt voneinander scheidet. Zugleich bietet er eine Antwort auf drängende migrationspolitische Fragen. Die massive Einwanderung von Muslimen stellt das säkularisierte Europa vor eine neue Herausforderung – genau wie den Islam. Muslime in der europäischen Diaspora sind in ihrer aktuellen Vielfalt und Verteilung ein eher junges Phänomen. Der starke Gottesbezug ihrer Rechtstradition kollidiert mit der in ihren Ursprüngen seit der Antike eingeübten Trennung von Religion und Recht, Kirche und Staat in der christlich-abendländisch geprägten Gesellschaft. Die Diskussion kreist darum, ob sich ein Euro-Islam entwickeln kann, der sich im Einwanderungsland als anschlussfähig erweist, oder ob die Glaubensgräben unüberwindbar bleiben und in Parallelgesellschaften münden.

WAS FÜR EINE LÖSUNG BIETET LAIZISMUS BEI DER INTEGRATION?

Eine unkomplizierte, klare, mit einer starken Maxime, die für Relativierungen keinen Platz lässt: Religion ist Privatsache, und der Staat hat in jeder Hinsicht neutral zu sein. Laizismus bietet Migranten weniger eine Brücke in die Mehrheitsgesellschaft als einen eigenen diskriminierungsfreien Zugang zum Staat. Ein religiös zurückgenommener Staat, so der Gedanke, kann besser integrieren als einer, der direkte oder indirekte Bekenntnisse formuliert. Migranten könnten sich leichter mit ihm identifizieren, er respektiert ihre freie private Religionsausübung. Zugleich werden dem Mehrheitsglauben dieselben Rechte zugebilligt.

WOHER STAMMT DER BEGRIFF?

Im Altgriechischen bezeichnete der Begriff „laikos“ jene, die zum Volk gehören, die einfachen Menschen. Über das Lateinische „laicus“ als Gegensatz zum „clericus“, dem Geistlichen, wandelte sich die Bedeutung im Mittelalter vom Nicht-Geistlichen zum „Ungebildeten“. Grund war, dass sich Bildungswege für Kinder ohne vermögende Eltern vor allem über die Kirchen erschlossen. Im deutschen Sprachgebrauch blieb diese Bedeutung im Wort „Laie“ in Abgrenzung zu beruflicher Professionalität erhalten, in den romanischen Sprachen schwand sie wieder. Das altfranzösische „lai“ wurde später zur „Laïcité“, dem Laizismus oder auch der Laizität.

WIE ENTWICKELTE SICH DER LAIZISMUS?

In etwa so, wie sich die Aufklärung und die europäische Moderne entwickelte: In Abgrenzung, vor allem zur katholischen Kirche. Die Gegenreformation hatte ihre Unversöhnlichkeit mit den neuen Zeiten bewiesen. Später stieß den Päpsten an den Leitmotiven der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – vor allem die Freiheit auf, allen voran die der Religionen: „Dadurch, dass man allen Konfessionen ohne Unterschied die gleichen Rechte zugesteht, verwechselt man die Freiheit mit dem Irrtum“, schrieb Papst Pius VII. an die französischen Bischöfe. In seinem „Verzeichnis der Irrtümer“ (Syllabus errorum), dem berüchtigten Anhang einer 1864 veröffentlichten Enzyklika, wurde Pius IX. konkreter, verdammte staatliche Schulen und akzeptierte nur den katholischen Glauben als Staatsreligion.

WIE REAGIERTEN DIE FRANZOSEN?

Zum Anfang des 20. Jahrhunderts eskalierte die Situation, restaurative Kräfte mit Rückhalt in Adel, Militär und Kirche standen dem republikanisch-demokratisch gesonnenen Bürgertum gegenüber. Mit einem Trennungsgesetz 1905, das als Geburt des Laizismus gilt, war der Machtkampf entschieden, religiöse Einflüsse und Symbole wurden getilgt, kirchliche Schulen schlossen, der Religionsunterricht wurde abgeschafft, Sakralbauten gingen in Staatsbesitz über, Kruzifixe verschwanden aus Schulen und Gerichten. Nach Angaben von „Le Monde des religions“ bezeichnet sich aktuell jeder zweite Franzose als Katholik, ein Drittel der Bevölkerung firmiert als konfessionslos, neun Prozent sind Muslime, drei Prozent Protestanten und ein Prozent Juden.

IST LAIZISMUS ANTIRELIGIÖS?

Im Grunde nein. Historisch betrachtet ist er antiklerikal, er wandte sich gegen Machtausbreitung und Herrschaftsanspruch der Kirche, er sperrte ihre staatliche Förderung. Aber er wandte sich nicht gegen das Christentum an sich. Seine antiklerikale Stoßrichtung findet auch in der Gegenwart Zustimmung, man konnte es in der Debatte um sexuellen Missbrauch beobachten, die anfangs auf kirchliche Institutionen beschränkt war. Die Fixierung auf eine leicht herzustellende und zu gewährleistende Gleichheit aller Religionen macht den Laizismus politisch gerade in linken und linksliberalen Kreisen attraktiv. Dort sind auch die antiklerikalen Reflexe stärker ausgeprägt als im liberalkonservativen Bürgertum.

WO GIBT ES LAIZISMUS HEUTE?

Ein Dutzend Länder hat den Laizismus in seinen Verfassungen verankert, in Europa nur Frankreich und Portugal, daneben aber unter anderem Japan, Mexiko und Indien. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat auch die katholische Kirche offiziell ihren Frieden mit ihm gemacht. Die Türkei trieb unter Staatsgründer Atatürk das französische Modell auf die Spitze. Dort wacht heute eine Behörde über die Religionsausübung, das Diyanet, zugleich höchste islamische Autorität des Landes. Die Religion ist damit Objekt staatlichen Verwaltungshandelns geworden, ein internationaler Sonderfall des Laizismus.

WELCHE CHANCEN HAT LAIZISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA?

Das Grundgesetz ist offen für Religionen und fördert sie, Religionsunterricht ist ein Verfassungsrecht, Kruzifixe an Schulen sind erlaubt, solange sich niemand beschwert. Der Staat zieht für die Kirchen Steuern ein und privilegiert sie als Körperschaften öffentlichen Rechts. Muslime dürfen Moscheen bauen. Ihnen ist allerdings der Körperschaftsstatus zurzeit noch verschlossen, Frauen mit Kopftuch dürfen vielfach nicht Lehrerin werden und Schüler nicht auf dem Schulgelände beten. Für einen strikten Laizismus müsste die Verfassung dennoch an vielen Stellen geändert werden. Die politischen Mehrheiten dafür sind fraglich, die Einflüsse christlicher Eliten in den staatlichen Gewalten stark. Für Europa gilt: Je größer die Vielfalt, desto stärker wird das Recht religiös entfärbt. Beispielhaft deutlich wird das am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit seinen 47 Richtern aus 47 Nationen. Seine Rechtsprechung zeigt Tendenzen zum Laizismus, mindestens aber legt er Wert auf eine strikte Gleichbehandlung der Religionen. Ein Grundsatz, mit dem auch das deutsche Modell noch in Konflikt geraten könnte.

IST LAIZISMUS DIE BESTE LÖSUNG?

Die Trennung von der Kirche, die Distanz zu Religionen und die Hinwendung zum Vernunftdenken sind die wichtigsten Errungenschaften des modernen Verfassungsstaates. Eine andere Frage ist, ob der Staat Religion in ihrer öffentlichen Präsenz fördern soll – und sich damit, indirekt, mit einer Mehrheitsreligion identifizierbar machen könnte. Für Laizisten ist das eine absurde Vorstellung. Andererseits: Wer fremde Länder bereist und sich als Gläubiger zu erkennen gibt, erlebt Interesse und kommt leicht ins Gespräch. Glaube macht Reaktionen erwartbar, er stellt Gemeinschaft her, fordert Respekt ein und schuldet ihn. Zudem: Die Religionen haben die Werte nicht erfunden, doch sie lassen sich mit ihnen oft einfacher vermitteln als anhand abstrakter Verfassungskategorien. Religion kann ausgrenzend wirken – aber auch sehr integrativ.

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