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Kultur: Gletscherschmelze in Istanbul

Von Büchern, Brücken und Bütteln: ein Porträt des Friedenspreisträgers Orhan Pamuk

Seine Sommerwohnung auf der Prinzeninsel Heybeli Ada hat eine große Terrasse über einem Meer von grünen Baumwipfeln. Dahinter ist das große, das blaue Meer zu sehen und, ausgebreitet auf Hügeln, Istanbul. Links vom Bosporus liegt Europa, rechts Asien. Ein anderer Blick wäre bei diesem Schriftsteller auch gar nicht denkbar. Orhan Pamuk ist ein Meister des Brückenschlags, einer, der Gegensätze zusammendenkt, nein, zusammenerzählt: Europa und Asien, Westen und Osten, Gegenwart und Vergangenheit, Populäres und Verstiegenes, Eigenes und Fremdes – und meist all das auf einmal.

Diesen Gegensätzen, die die Türkei zu zerreißen drohen, bereitet Pamuk in seinen Romanen unvergessliche Auftritte. Daher gleichen „Die weiße Festung“, „Das schwarze Buch“, „Das neue Leben“, „Rot ist mein Name“ und „Schnee“ (auf Deutsch bei Hanser erschienen) ausgedehnten Reisen in das Herz der türkischen Finsternis: Es sind glänzend erzählte Allegorien des Landes. Ihrem Verfasser ist die islamische Mystik so nahe wie der angelsächsische Kriminalroman und Thomas Mann so vertraut wie die tanzenden Derwische. Wen wundert es da, dass er spannende Unterhaltung und literarischen Anspruch glänzend verbindet?

Pamuks Romane verkaufen sich in der Türkei bis zu 200 000 Mal und wurden in 35 Sprachen übersetzt. Eine ziemlich ungewöhnliche Schriftstellererscheinung, hoch gewachsen, mit jungenhafter Ausstrahlung und einem explosiv hervorbrechenden, tiefen Lachen. Am Sonntag wird Pamuk in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Unverkennbar ist der Meister des Brückenschlags ein Kind der Atatürkschen Republik, die mit dem osmanischen Erbe brach und Europa als Vorbild betrachtete. Das Ungenügen am Eigenen und die Sehnsucht nach dem Fremden muss Pamuk schon mit der Muttermilch eingesogen haben: Sein Buch „Istanbul“ beginnt mit einer beängstigenden Szene, in welcher der fünfjährige Orhan glaubt, er besitze irgendwo in Istanbul einen „gespenstischen“ Doppelgänger. Der andere Orhan ist ihm Trost und Horror zugleich.

„Istanbul“, das im nächsten Herbst auf Deutsch erscheint, erzählt von den ersten 22 Lebensjahren Pamuks, in denen der 1952 geborene Sohn einer wohlhabenden, westeuropäisch geprägten Familie die angesehene englischsprachige Robert Academy in Istanbul besuchte und Architektur studierte. Es ist eine intellektuelle Autobiografie, eine Identitätssuche – und ein Essay über die geliebte Stadt, die damals vier Millionen Einwohner besaß und heute auf 15 Millionen angeschwollen ist. Pamuk hat sie, sieht man von einem USA-Aufenthalt ab, niemals verlassen. Bis zu seinem 32. Lebensjahr lebte er mit seiner Mutter in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist – in der Tesvikiye Avenue östlich des Taksim-Platzes – vergraben in Bücher und schreibend.

Einige bisher nicht ins Deutsche übersetzte Romane entstanden, bevor mit dem Familienroman „Cevdet Bey und seine Brüder“ der Durchbruch kam. In den Achtzigerjahren begleitete Orhan Pamuk seine Frau, eine Germanistin, nach New York und las begierig die literarische Avantgarde. Borges, Calvino, Pynchon lehrten ihn, die eigene literarische Tradition neu zu begreifen – vor allem die Sufi-Mystik, die von den türkischen Modernisierern als islamisch und reaktionär verfemt wurde. Postmoderne wie Mystiker definieren Einheit als Einheit von Gegensätzen, und so wuchs in den USA ein neuer Autor heran: einer, der in dem Roman „Das schwarze Buch“ Istanbul als reales und als Textlabyrinth zeigt, der eine Krimihandlung mit ironisch-abgründigen Zeitungskolumnen verkuppelt und eine Armee von türkisch aussehenden Schaufensterpuppen erfindet, die in Verliesen aus byzantinischen Zeiten verrottet, weil Atatürks Republik sich lieber in Mannequins aus Europa spiegelte.

Es brodelt in Pamuks Büchern. Die Einheit der Gegensätze ist fragil. Pamuk gibt ihnen Raum, weil, so sagt er, „eine Stimme nicht die ganze Wahrheit enthält oder die Wahrheit, von der ich erzählen möchte, ihre eigene Zerstörung nach sich zieht“. Am deutlichsten ist diese Vervielfältigung der Perspektiven in dem Roman zu beobachten, in dem nicht nur Lebende vom mörderischen Wettstreit zwischen türkischen Buchillustratoren und venezianischen Malern, zwischen Bilderverbot und Bilderschwelgerei erzählen – sondern auch Tote, dazu eine Münze, ein Hund und eine Farbe, nach der das Buch benannt ist: „Rot ist mein Name“.

Gletschern gleich nehmen Pamuks Bücher alles an Tradition und Gegenwart, Traum und Realität mit sich, was auf ihrem Weg liegt (und auf zahlreichen, begeistert genommenen Um- und Irrwegen). Den Brückenschlag zwischen den heterogenen Teilen besorgen Elemente des Kriminal- und des Bildungsromans sowie eine Ironie, die der des verehrten Thomas Mann nicht nachsteht: Eine Quelle all der türkischen Leiden am Westen in der metaphysischen road novel „Das neue Leben“ sind möglicherweise Sinnsprüche, die ein argloser Fabrikant vor Jahrzehnten für seine Bonbons der Marke „Neues Leben“ erdichtete. Vernichtender lässt sich der explosive Postkolonialismus, für den der Osten durch den Westen zugerichtet wurde, kaum kommentieren.

Mit solchen Respektlosigkeiten hat sich der überzeugte Europäer und Demokrat wenig Freunde bei den türkischen Nationalisten gemacht. Als er Anfang 2005 in einem Interview mit dem Magazin des Züricher „Tages-Anzeiger“ die Ermordung von Kurden und Armeniern erwähnte, hagelte es Morddrohungen. Pamuk reiste für Monate auf Einladung der Columbia University nach New York. Im Dezember will ihn ein Istanbuler Gericht wegen Herabsetzung der „türkischen Identität“ anklagen. Betrüge die Höchststrafe nicht drei Jahre, müsste man von einem schlechten Scherz sprechen. Hat nicht gerade dieser Autor in seinem letzten ins Deutsche übersetzten Roman „Schnee“ großes Verständnis für Säkulare, Islamisten und Kurden gezeigt, die sich in der anatolischen Grenzstadt Kars bekämpfen? „Mein Held, der Dichter Ka, leidet mit allen mit“, sagt Pamuk. „Er will das ganze Land begreifen.“

„Schnee“ erzählt von der landesüblichen Reaktion auf die extremen Gegensätze. Als die Stadt einschneit, schwingt sich ein Theaterschauspieler für Tage zum Diktator auf. Inmitten der blutigen Farce fallen dem zwischen den Parteien hin- und hertaumelnden Dichter Ka nach und nach 18 Gedichte zu, die, so glaubt er, das Rätsel seines Lebens enthalten. „Schnee“ zeichnet ein Panorama des Landes in Cinemascope – und ist wie alle Romane dieses Mannes eine Apotheose der Literatur. Sie allein kann die Extreme verbinden. Wer das für Resignation hält, hat das Glück, Orhan Pamuk zu lesen, noch vor sich.

Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Orhan Pamuk überträgt das ZDF am Sonntag ab 11 Uhr live. Die Laudatio hält Joachim Sartorius, Lyriker, Übersetzer und Intendant der Berliner Festspiele. Am 26. Oktober liest Orhan Pamuk in der Berliner Volksbühne.

Jörg Plath

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